2) Vampirmädchen

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Am nächsten Morgen war ich müde. Sehr müde. Wie immer nach einem Albtraum hatte ich Stunden gebraucht, um wieder einzuschlafen. So war es kein Wunder, dass ich dicke Ringe unter den Augen hatte, als ich in der Cafeteria in der Schlange der Essensausgabe stand. „Da ist aber eine müde. Na, wer war letzte Nacht dein Opfer, Vampirmädchen?", ertönte eine Stimme hinter mir. Ich kannte sie nur zu gut. Sie war gerade im Stimmbruch und mit einem leichten Kratzen versehen, dass davon kam, dass ihr Besitzer regelmäßig mit seinen Freunden die Zigaretten rauchte, die sein älterer Bruder ihm jede Woche getarnt in Pralinenschachteln schickte. Er war schlaksig, groß, fast fünfzehn Jahre alt und der Tyrann des Waisenhauses. Er hatte vor niemandem Angst. Nicht einmal vor Frau Griesgram. Er sah wie Marie eigentlich gewöhnlich aus, aber sein gemeiner Charakter ließ ihn zu jemand wirklich Besonderem werden. Allerdings nicht im positiven Sinne. Da ich die Einzige war, die er, egal wie lange er stichelte, nicht zum Heulen bringen konnte, war ich ihm ein Dorn im Auge und seit den zwei Jahren, die er hier war, sein ständiges Ziel. Wie immer ignorierte ich ihn und setzte mich alleine an einen Tisch. Eigentlich war ich nicht gläubig. Aber ich glaubte daran, dass meine Mutter mich jetzt sehen konnte. Was dachte sie wohl? Wie automatisch griff ich mir an den Hals. Dort hing eine goldene Kette mit einem ebenfalls goldenen Medaillon. Das war das Einzige, das von meinen Eltern geblieben war. Es war auch das einzig Wertvolle, das ich besaß und ich würde es niemals weggeben. In dem Inneren des Medaillons war kein Foto oder ähnliches. In seinem Inneren waren kurze graue Haare. Ich hatte mich immer gefragt, von wem sie kamen. Meiner Mutter gehörten sie nicht. Was war mit meinem Vater? Ich hatte mich darüber informiert und war zu dem Schluss gekommen, dass sie auch von einem Tier stammen könnten. Doch warum sollten Eltern in das Medaillon ihrer kleinen Tochter Fell von einem Hund oder einer Katze tun? Das ergab einfach keinen Sinn. Während ich noch weiter darüber nachdachte, begann ich zu essen. Ich verabscheute das Essen hier. Die Nudeln waren zu fest, das Brot zu weich, die Soßen schmeckten nach Spülwasser und die Pfannkuchen nach Pappe. Und ich war nicht die Einzige. Doch was blieb uns anderes übrig? Einmal, als das Essen besonders ekelig geschmeckt hatte und ich nichts davon herunterwürgen konnte, war ich in der Nacht in die Cafeteria zurückgekommen und hatte Frau Griesgram dabei beobachtet, wie sie aus einem zweiten Kühlschrank lecker aussehendes Essen gegessen hatte. In der nächsten Nacht hatte ich versucht etwas davon zu stehlen, doch Frau Griesgram hatte mich erwischt und die Woche danach waren meine Mahlzeiten noch spärlicher ausgefallen. Und als ich ihr gedroht hatte, sie zu verraten war sie ausgerastet und sagte, sie würde mir für zwei Monate den Sonntagsausflug streichen. Außerdem machte es die Sache nicht besser, dass alle anderen Aufseher auch davon wussten und sich ebenfalls dort bedienten. Also habe ich ihr Geheimnis für mich behalten. Das und die Sache mit meinen Albträumen hatte mich bei ihr unbeliebt gemacht. Doch ich machte mir nichts daraus und ignorierte die bösen Blicke, die sie mir immer wieder zuwarf.

Nach allem, was ihr jetzt über mich erfahren habt, müsst ihr mich für eine Unruhestifterin, Einzelgängerin und für gefühlskalt halten. Aber das stimmt alles nicht. OK, die Sache mit der Einzelgängerin stimmte. Und es war mir tatsächlich egal, was die anderen um mich herum taten, dachten und fühlten. Aber was ich fühlte, war ja auch allen egal. Und ich hielt mich eigentlich auch sehr im Hintergrund und hatte, bis auf die Sache mit den Lebensmitteln und meinen Alpträumen, wofür ich aber nichts konnte, noch nie Ärger gemacht. Ich war immer einfach nur da. Manchmal überlegte ich, ob ich vielleicht weniger gleichgültig geworden wäre, wenn ich mehr Liebe oder vielleicht sogar eine Familie gehabt hätte. Oder ob ich ein verborgenes Talent hatte, mit dem ich berühmt werden könnte, wenn ich die Chance bekommen könnte, es zu entdecken und allen zu zeigen. Doch ich hatte weder Liebe oder eine Familie, noch ein besonders Talent. Ich war halt da. Einfach nur da. 

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