24) Weihnachten

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 Der Duft von frisch gebackenen Plätzchen wehte durch das Waisenhaus, das mit Girlanden, Lichterketten und Mistelzweigen geschmückt war. In der Eingangshalle stand ein riesiger Tannenbaum, der mit Plastikkerzen, Kugeln, Engeln und allerlei anderem Schmuck behängt worden war. Doch das schönste war das Lächeln auf den Lippen der Kinder, dass nun, da Frau Griesgram nicht mehr da war, überall zu sehen war. Inzwischen gab es eine neue Besitzerin und neue Aufseher. Sie waren allesamt nett und freundlich, besonders die neue Besitzerin. Auch sie hatten einen Spitznamen bekommen, der allerdings von ihrer Freundlichkeit herrührte. Die kleinsten Kinder aus dem Waisenhaus nannten sie Frau Engel. Marie und ich wohnten wieder in unserem alten Zimmer, doch sonst hatte sich vieles verändert. Das Essen war lecker, da nun bessere Lebensmittel eingekauft wurden. Das ganze Gebäude war freundlicher, da die Zimmer alle geschmückt wurden. Unsere Kleidung war hochwertiger und bequemer. Auf dem Gelände wurde ein Spielplatz errichtet. Der Sonntagsausflug blieb, doch wir durften nun auch in den Wald, solange wir entweder alt genug waren und mindestens zu zweit gingen oder mit einem der Aufseher gingen. So ging ich öfter zusammen mit Marie in den Wald und ich brachte ihr bei, wie sie sich verwandeln konnte, wie sie mit mir und anderen Wölfen kommunizieren konnte und wie man jagte. Sie anderen Wölfe sahen wir so auch öfter und mit der Zeit freundeten wir uns mit dem Rudel an. Das wichtigste aber, das sich in dem Waisenhaus verändert hatte, war die nun vergangene Feindseligkeit, das Misstrauen. Die Kinder, egal welches Alter und egal welches Geschlecht, waren mir dankbar. Sie hatten keine Angst oder Abscheu mehr. Sie waren freundlich zu mir. Also fast alle. Der Tyrann war immer noch ein Tyrann. Nachdem er zweimal andere Kinder geschlagen hatte, wurde er in ein Waisenhaus für schwierige Kinder geschickt, worüber er natürlich nicht besonders glücklich war. Danach kehrte Ruhe ein. Seine Freunde, die bei den Schlägereinen meist nur angefeuert hatten, trauten sich alleine nicht und so herrschte Frieden.

Am Weihnachtsabend versammelten sich alle zuerst in der Cafeteria, wo es ein Festessen gab, dass aus einer Auswahl aus verschiedenen Gerichten bestand. Es gab Kartoffelsalat, Gänsebraten, Rouladen, Eintopf und Fondue und zum Nachtisch gab es Schokoladenweihnachtsmänner, Marzipanstollen, Lebkuchen, Spekulatiuskekse, Zimtsterne, Vanillekipferl und Dominosteine. Es war köstlich. Danach versammelten sich alle in der Eingangshalle um den Tannenbaum und sangen gemeinsam Weihnachtslieder. Anschließend wurden die Geschenke, die wir und gegenseitig gemacht bzw. gekauft hatten, ausgepackt. Vorher hatte noch keiner von uns je ein Weihnachtsgeschenk bekommen. Als Marie mir vor den funkelnden Weihnachtsbaum ein Päckchen überreichte, war ich so glücklich wie noch nie. „Danke", hauchte ich und umarmte sie. „Du weißt doch noch nicht einmal was es ist. Vielleicht gefällt er dir gar nicht." „Und selbst wenn, wäre das nicht wichtig. Das ich eine Schwester habe, ist das beste Geschenk, das mir je jemand machen könnte." Marie traten Tränen des Glücks in die Augen und ihr strahlendes Lächeln schien den Raum noch heller zu erleuchten. In dem kleinen Päckchen lag eine kleine blaue Schatulle, in der ein Ohrring lag. Er hatte die Form eines Wolfes. Ich lächelte. „Der ist total schön." Marie hielt mir ihre Hand hin, in der der zweite Ohrring lag. „Ich habe Frau Engel gefragt. Sie hat erlaubt, dass wir uns Ohrlöcher stechen dürfen." Ich bedankte mich stürmisch bei ihr. Dann überreichte ich ihr mein Geschenk. Es war ein grauer Anzug mit Klettverschlüssen an den Seiten. „Deine Klamotten sind doch im Wald immer gerissen. Damit kann das nicht passieren." „Danke! Den probiere ich nächsten Sonntag gleich aus." Da landete noch ein Päckchen in meinem Schoss. Verwundert blickte ich auf. „Du hast doch heute Geburtstag", sagte Marie mit einem schüchternen Lächeln. „Ich habe was?" Ich war völlig perpleks. „Mutter hat es mir erzählt. Du wurdest an Weihnachten geboren." „Wirklich?" Marie nickte. „Jetzt mach schon auf!", rief sie aufgeregt. In dem Päckchen war ein Buch eingewickelt gewesen. Ein Sachbuch über Wölfe. „Du liest doch so gerne. Und die Bibliothek des Waisenhauses gibt nur sehr spärliche Auskunft über Wölfe." Ich lächelte. „Danke."

Nachdem der Trubel sich auflöste und sich alle in ihre Zimmer zurückzogen um schlafen zu gehen, besuchten Marie und ich noch unsere Mutter. Auch ihr standen die Tränen in den Augen, als sie uns sah. „Es tut mir so leid, dass ich euch nichts schenken kann", sagte sie. „Du kannst uns etwas schenken. Deinen Rat. Dass du immer für uns da bist, ist ein großes Geschenk", widersprach Marie. Da rollten die Tränen noch zahlreicher ihre weißen Wangen hinunter. „Alle Gute zum Geburtstag, Eira", wandte sie sich dann an mich. „Ich habe also wirklich an Weihnachten Geburtstag?", fragte ich, immer noch ungläubig. „Ja, dass hast du. Du bist jetzt dreizehn." Dreizehn. Mein Leben hat gerade erst richtig begonnen. Ich war jetzt freier, als ich es je war. Ich war jetzt glücklicher, als ich es je war. Und ich war nicht mehr einsam. Ich hatte eine Familie. Ich hatte eine Gabe. Ich hatte Freunde. „Frohe Weihnachten!", flüsterte ich und zog meine Mutter und meine Schwester in eine Umarmung, die all das zu repräsentieren schien. 

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