15) Feuer

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Ich biss noch einmal zu. Die nächste Stange brach. Ich hatte keine Ahnung, woher ich die Kraft nahm. Und ich wusste auch nicht, dass so etwas überhaupt möglich war. Aber vielleicht lag es auch daran, dass ich ein Wolfsmensch war, auch wenn ich immer noch nicht wusste, was genau das bedeutete. Nach dem nächsten Biss war das Loch so groß, dass ich hindurch passte. Die abstehenden Metallstangen schnitten mir ins Fleisch, als ich mich daran vorbeischob, aber ich beachtete die oberflächlichen Kratzer nicht und wandte mich gleich dem nächsten Käfig zu. Doch ich wusste, dass ich es nicht schaffen würde, fünf weitere Käfige aufzubeißen. Meine einzige Chance war der Schlüssel. Doch dieser befand sich im Besitz eines grausamen, aber leider nicht dummen Menschen. Selbst als Wolf hätte ich keine Chance. Er war gerissen, so viel stand fest. Und ein gerissener Mensch würde niemals Wölfe in seinem Haus halten, ohne Betäubungspfeile bei sich zu tragen. Wenn ich betäubt wurde, war ich verloren. Und die Wölfe auch. Ich brauchte eine andere Idee. Einen Plan. Aufmerksam sah ich mich um. Vielleicht gab es hier irgendwelche Werkzeuge, die mir helfen konnten. Ich verwandelte mich zurück in einen Mensch und durchsuchte das einzige Möbelstück, das sich in diesem Raum befand. Eine Kommode aus dunklem Holz. Die sechs gleichgroßen Schubladen waren an der Vorderseite mit Schnitzereien und je einem Messinghenkel verziert und die Oberfläche war mit zahlreichen Kratzern versehen. Ich zog die erste Schublade auf. Billiges Hundefutter. Die zweite Schublade. Billiges Hundefutter. Auch die dritte, vierte und fünfte Schublade war voll mit Hundefutter. Kein Wunder, dass die Wölfe so schwach waren. Herr Hansen gab ihnen nur genau so viel, dass sie nicht verhungerten und er sie weiter leiden lassen konnte. In der sechsten Schublade befand sich jedoch etwas anderes. Erst dachte ich, sie wäre leer, doch als ich sie mit Schwung zuschob, rutschte etwas nach vorne. Etwas Kleines, Dünnes. Ein Pflaster. Es war schon alt und war wahrscheinlich hier vergessen worden. Einen Verbandskasten oder ein Erste-Hilfe-Set braucht man ja nicht, wenn man Kreaturen extra leiden lassen will. Plötzlich durchzuckte mich eine Idee. Bei Verbandskästen hingen auch immer Feuerlöscher. Ein Feuer. Ich lief zurück zu den Käfigen und lies mich vor meinem Rucksack auf die Knie Fallen. Nach kurzem Wühlen hatte ich zwei Dinge in den Händen. Die Streichhölzer und das zerrissene Oberteil. Einen Plan hatte ich auch. Er war gefährlich. Er war dumm. Und er war meine einzige Chance.

Dieser Tag war der einzige, an dem ich froh darüber war, dass Frau Griesgram uns immer die billigsten Kleider gekauft hatte, die sie finden konnte. Baumwolle war teurer als Polyester. Und Polyester brannte besser. Allerdings durfte ich es nicht hier anzünden. Es würde zu stark qualmen und das Risiko, eine Rauchvergiftung zu bekommen, war zu hoch. Mit der Streichholzpackung und dem Oberteil in den Händen und dem Rucksack auf dem Rücken lief ich zur Tür und presste mein Ohr dagegen. Kein Laut war zu hören. Vorsichtig drückte ich die Klinke herunter und zog. Die Tür war nicht abgeschlossen. Ich schlüpfte durch den Spalt in den Flur und sah mich um. Am anderen Ende des Flures wäre das Feuer weiter weg von den Wölfen, allerdings war die Straße auf der anderen Seite und man würde von dort aus das Feuer besser sehen. Ich musste nur in den Raum gegenüber. Ich lief an einer anderen Wendeltreppe, die weiter nach oben führte, vorbei und legte vorsichtig eine Hand auf die Türklinke. Das Ohr an die Tür gepresst lauschte ich. Ich hatte Glück. Kein Mucks war zu hören. Vorsichtig schlüpfte ich in das Zimmer. Es war ein Schlafzimmer. Fast der ganze Platz wurde von einem riesigen Doppelbett eingenommen, neben dem ein kleiner Nachttisch stand. Darauf lag etwas Kleines, Metallenes. Ich stürzte zum Nachttisch und schnappte mir den Schlüssel, lies ihn dann jedoch enttäuscht sinken. Er war zu klein, als dass er in einen der klobigen Schlösser an den Käfigen gepasst hätte. Ich ließ meinen Blick durch das Zimmer schweifen und sah eine Tür gegenüber der großen Fenster. Das Schloss war klein. Der Schlüssel passte. Als ich die Tür öffnete, fragte ich mich, warum man einen Schlüssel, der etwas so Kostbares schützte, einfach so herumliegen ließ. Das Zimmer war voll mit Geld. Es gab keine Möbel, auf dem Boden türmten sich zusammengebundene Geldscheine und überall lagen kleine Häufchen aus Münzen herum. Ich hatte noch nie so viel Geld gesehen. Kurz überlegte ich, ob ich etwas davon einpacken sollte, doch dann entschied ich mich dagegen. Ich wollte gerade wieder abschließen, da kam mir eine andere Idee. Ich lief zu dem Nachttisch und stöberte in den Schubladen. Wenig später hielt ich ein Feuerzeug und eine Packung Zigaretten in der Hand. Das würde noch viel besser werden.

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