19) Tod

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„Ist es nicht so? Du hast sie verraten und gehofft, ich würde im Schnee erfrieren! Doch Pech für dich, dass ich gefunden wurde." Ich konnte die Wut nicht mehr zurückhalten. Sie blubberte aus mir heraus und ich wusste, dass er sie in meinen Augen flackern sah. Langsam erholte er sich von seinem Schock und Hass trat an dessen Stelle. „Oh ja, das habe ich. Und was für einen Genugtun es mir bereitet hat, dieses widerliche Weib loszuwerden." Ich wollte auf ihn springen und ihn in Stücke reißen. „Und dann? Dann hast du Wolfe aus aller Welt geholt und verkauft?" „Einen Polarwolf, einen Timberwolf, einen ägyptischen Wolf, einen arabischen Wolf und schließlich noch einen indischen Wolf. Wobei letzterer uns einmal entwischt ist, bis er eines Tages ganz zufällig vor unserer Tür stand. Weißt du, dieses illegale Geschäft bringt eine Menge Geld ein." „Du hast genug geredet. Es wird Zeit, dass du die kleine Göre entfernst", rief der Mann mit der kratzigen Stimme. „Das werde ich tun." Der Mann, der mein Vater war, grinste. Ich wollte rennen, weglaufen, mich in Sicherheit bringen, doch meine Beine bewegten sich nicht. Mit einer schnellen Bewegung griff der Mann sich ein an der Wand hängendes Gewehr und schoss. Die Kugel traf mich in die Brust und die Wucht warf mich zu Boden. Ich spürte keinen Schmerz, doch als ich die Hand auf meine Brust legte, spürte ich das warme Blut. Ein Summen machte sich in meinen Ohren breit. Erst ganz leise, dann immer lauter. Wie von weit her hörte ich noch die hohe Stimme von Paul: „Sie versaut den ganzen Fußboden." Meine Hand schloss sich um mein Medaillon, dann verschwamm mein Sichtfeld und ich verlor das Bewusstsein.

„Eira. Eira!" „Bin ich tot?" Meine Stimme klang seltsam hohl. Als ich die Augen öffnete, war alles um mich herum schwarz und doch gab es Licht. Ich sah an mir herunter und stellte überrascht fest, dass ich leuchtete. Von meiner Haut ging ein leichtes, weißes Licht aus. Ich blickte auf und sah eine Frau vor mir. Sie war groß und schlank, hatte weiße Haut und schwarze Haare. „Mama?" Das Wort fühlte sich seltsam an. „Mama, bin ich gerade gestorben?" Tränen traten mir in die Augen. „Nein, mein Schatz. Du bist nicht tot. Ich bin es, aber du nicht. Du hast noch eine Chance." Die Frau trat näher und nahm mich in den Arm. Als ich sie berührte, fing sie auch an zu leuchten. „Ich habe Angst", flüsterte ich. „Ich weiß, mein Schatz. Ich weiß", flüsterte sie zurück und strich mir beruhigend übers Haar. „Stimmt es, dass du ihn nur geheiratet hast, um Marie zurück zu bekommen?" Meine Mutter schob mich etwas von sich weg, damit sie mich ansehen konnte. Ihre Augen waren hellblau. „Nein, nicht nur. Ich habe ihn wirklich geliebt. Ich liebe ihn immer noch. Obwohl ich weiß, dass er diese Liebe nicht verdient hat." Eine kurze Weile war es still, dann erhob meine Mutter wieder ihre Stimme: „Du musst gehen, wenn du noch weiter leben willst. Hast du noch irgendwelche Fragen, die du dringend beantwortet haben willst?" „Ja! Weißt du, ich hatte Alpträume, konnte mich aber nie daran erinnern, was ich geträumt hatte." „Ich weiß. Ich habe diese Erinnerungen gelöscht. Das ist eine meiner Fähigkeiten als Wolfsmensch. Ich beobachte und beschütze dich. Du hast schreckliche Sachen geträumt. Die Träume sollten dich in den Wald locken und gingen mit deiner Sehnsucht einher." „Aber du bist tot!", rief ich. Meine Mutter lächelte. „Hast du dich nie gefragt, wo die toten Seelen hinkommen? Von dort aus, kann ich dich immer beschützten. Und durch dein Medaillon kannst du mich immer erreichen. Fragt Marie. Sie wird dir zeigen, wie du es nutzen kannst." „Eine Frage habe ich noch. Hast du mich Eira genannt?" Meiner Mutter traten die Tränen in die Augen. „Ja. Das ist dein richtiger Name. So habe ich dich genannt. Eira bedeutet Schnee. Und du wurdest nicht nur im Winter geboren, sondern du ähnelst auch Schnee. Du bist genauso schön, voller Überraschungen, kalt und gleichzeitig beschützend wie eine Höhle aus Schnee." Ich klammerte mich fester an meine Mutter. „Danke!", flüsterte ich. Ich spürte, wie sie lächelte. „Du solltest jetzt gehen. Geh und verwandele dich. Und denk daran, ich werde immer bei dir sein."


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