4) Im Krankenhaus

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Schreiend wachte ich auf. Kurz darauf stürmte Frau Griesgram keuchend in das Zimmer. „Was ist los?" Mein Atem ging rasselnd schnell. „Albtraum", brachte ich heraus. „Warum komme ich eigentlich immer noch jedes einzelne, verdammte Mal?", fauchte sie, bevor sie verschwand. Ich stand auf und lief zum Fenster. Der Wald breitete sich dort aus und mein Atem wurde bei seinem Anblick ruhiger. Diesmal war der Albtraum anders gewesen. Ich erinnerte mich noch genau an jede Einzelheit. Da die Ereignisse des letzten Tages darin vorgekommen waren, kann dieser Albtraum nicht der gleiche, wie meine vorherigen gewesen sein. Was war nur los mit mir? Im Moment gab es so viele Fragen in meinem Leben. Wer hatte meine Mutter umgebracht? Wer war mein Vater? Lebte er überhaupt noch? Was kam in meinen Alpträumen vor? Diese Fragen plagten mich schon lange. Doch es waren neue dazugekommen. Wieso war Marie in Richtung Wald gelaufen? Wer hatte den Wolf nach Deutschland gebracht? Und warum? Das war viel. Sehr viel. Doch ich war entschlossen, alle Antworten zu finden. Als ich wieder zum Wald blickte, durchflutete mich wieder ein starkes Gefühl von Willenskraft und Stärke. Ja, der Wald gab mir Kraft. Ich beschloss als erstes bei Marie nach Antworten zu suchen.

Am nächsten Morgen bettelte ich eine Aufseherin so lange an, bis ich von ihr ins Krankenhaus gefahren wurde. Die arme Frau blickte ziemlich genervt drein, aber das war mir egal. Wir mussten lange warten, aber als es schließlich so weit war, stürmte ich in das Zimmer, in dem Marie lag. Die Aufseherin wartete vor der Tür. Maries Haut wirkte blass und ihr Haar war nicht so gebürstet wie sonst, aber sie lächelte, als sie mich hereinkommen sah. Tatsächlich, sie lächelte! Ich hatte Marie noch nie, wirklich noch nie lächeln gesehen. Doch es stand ihr. Ihre Augen leuchteten und sie hatte kleine Grübchen im Gesicht. Außer ihr lag sonst niemand in diesem Raum, obwohl es insgesamt drei Betten gab. Ich trat näher an ihr Bett heran und setzte mich auf einen der Stühle, die für Besuchter dort positioniert waren. „Wie geht es dir?" Ich erwartete keine Antwort und riss deshalb überrascht die Augen auf als sie sagte: „Es ging mir schon mal besser." Ihre Stimme klang wunderschön. Wie eine Mischung aus weichem Honig, dem Rascheln der Blätter im Wald und dem leisen Singen einer Nachtigall. „Du...du sprichst?", schrie ich fast. Marie legte warnend einen Finger auf die Lippen. „Wir haben nicht viel Zeit, also hör mir genau zu. Du bist ein Wolfsmensch. Genau wie deine Mutter. Sie wollte, dass ich es dir zeige, wenn sie es nicht kann." „Du kanntest meine Mutter?", unterbrach ich sie. „Ja. Ich bin ihre erstgeborene Tochter." „Du bist meine Schwester?" „Halbschwester", korrigierte sie mich. Ich war fassungslos. „Warum hast du mir das nie gesagt?" Marie schüttelte nur den Kopf. „Du musst in den Wald. Du musst den Wolf finden und ihn nach Hause bringen. Eigentlich will ich dir dabei helfen, aber ich kann nicht. Du schaffst das aber auch ohne mich. Wenn du wirklich in ganz großen Schwierigkeiten bist, kannst du mich immer darüber erreichen." Sie griff sich an den Hals und hielt mir ein goldenes Medaillon an einer goldenen Kette entgegen. Es sah genauso aus wie meines. „Wie...?" Doch Marie unterbrach mich mit einem Kopfschütteln. Draußen auf dem Gang ertönten auf einmal Schritte. Hektisch schaute Marie zur Tür. „Du schaffst das. Und vergiss nie: Du bist ein Wolfsmensch. Hörst du? Du bist ein Wolfsmensch." Dann flog die Tür auf und ich wurde von der Aufseherin aus dem Zimmer gezerrt. Ich wehrte mich, doch ich war zu geschockt, um mich loszureißen. Das letzte, was ich sah, war Maries trauriges Lächeln, bevor sich die Tür schloss.


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