Er war wieder da. Der indische Wolf. Unter seinem dünnen Fell stachen seine Rippenknochen hervor und seine Augen huschten von mir zu der Tüte mit dem Fleisch und wieder zu mir. Ich steckte die Hand nach dem Fleisch aus. Der Wolf knurrte und duckte sich, als würde er sich zum Sprung bereit machen. Vorsichtig und langsam holte ich ein Stück Fleisch aus der Tüte und warf es dann mit einer schnellen Bewegung direkt vor seine Füße. Kurz sah er mich noch an, dann verschlang er das Fleisch hastig. Vorsichtig näherte ich mich dem Geschöpf, das so wunderschön und gefährlich zugleich war. Ich streckte eine Hand nach ihm aus. Seine Augen folgten jeder von meinen Bewegungen. Ich wusste nicht, was ich tat, es war wie ein Instinkt, der mir sagte, dass ich mich dem Wolf nähern sollte. Ich machte noch einen Schritt, da viel sein Blick auf einmal auf meinen Hals. Seine Augen verengten sich und dann, ohne Vorwarnung, sprang er. Reflexartig schloss ich meine Augen. Ich fühlte warmen Speichel an meinem Hals und spitze Zähne, die sich in meine Haut gruben. Dann verlor ich das Bewusstsein.
Dunkelheit. Schmerz. So unglaublich starker Schmerz. Es war, als würde mein Blut kochen und gleichzeitig gefrieren. Mein Magen drehte sich herum. In meinen Ohren piepste es. Fühlte es sich so an, zu sterben? Ich wollte nicht sterben. Ich durfte nicht sterben! Es gab noch so viel, was ich wissen und tun wollte. Ich hatte doch noch mein ganzes Leben vor mir. Und ich hatte eine Aufgabe. Ich konnte nicht sterben. Ich würde nicht sterben! Krampfhaft hielt ich mich an diesem Gedanken fest, wie ein Ertrinkender an einem Strohhalm. Und dann, waren die Schmerzen auf einmal weg. Langsam öffnete ich die Augen und blinzelte in das helle Sonnenlicht. Es war nicht mehr Abend. War ich etwa die ganze Nacht bewusstlos gewesen? Immer noch blinzelnd versuchte ich mir ein Bild zu machen, wo ich war. Ich lag auf der Seite und blickte direkt auf einen Baum. Vorsichtig richtete ich mich auf. Mein Rucksack und dessen Inhalt lagen unangerührt neben mir, doch die Tüte, in der die Fleischstücke gewesen waren, war leer. Da entdeckte ich zwei bernsteinfarbene Augen zwischen den Bäumen und die Erinnerungen kamen zurück. Reflexartig fasste ich mir an den Hals und stellte zu meinem Entsetzten fest, dass Blut aus Vertiefungen in meinem Hals lief. Warmes Blut. Mein Blut. Aber ich lebte noch. Wie war das möglich? Er hatte mich doch in den Hals gebissen. Was war passiert? Ich blickte auf meine Hand, die nun teilweise mit rotem Blut bedeckt war. Ich wischte die Flüssigkeit an meinem Pullover ab, als ich eine Bewegung spürte. Es war mehr Intuition als Sinne. Ich hob den Kopf und sah, dass der Wolf zwischen den Bäumen hervorgetreten war. Langsam und vorsichtig kam er auf mich zu. Nun wirkte er nicht mehr gefährlich. Eher schüchtern. Er legte sich direkt vor mich auf den feuchten Waldboden und sah mich durchdringend mit seinen bernsteinfarbenen Augen an. Ich hatte das Gefühl, er erwartete irgendetwas von mir. Verwirrt runzelte ich die Stirn. Woher wusste ich das? Ich streckte vorsichtig die Hand aus und strich dem Wolf über den Hals. Komischerweise hatte ich keine Angst, obwohl er mich in den Hals gebissen hatte. Ich vertraute ihm. Es war ein komisches Gefühl, dass ich noch nie gefühlt hatte. Es wird immer gesagt, Vertrauen braucht Zeit. Doch ich hatte keine Zeit gehabt und trotzdem war das Vertrauen da. Ich griff mir erneut an den Hals, da fiel mir auf einmal auf, dass meine Kette fehlte. Panisch sprang ich auf. Sie musste doch irgendwo liegen! Da sah ich etwas in meinem Augenwinkel glitzern. Es war mein Medaillon! Es lag neben der Stelle, an der ich gelegen hatte. Erleichtert ließ ich mich auf den Boden sinken und strich mit den Fingern über die Oberseite. Die Kette war gerissen und lag daneben. Ich hob sie auf und steckte sie vorsichtig in meine Jackentasche und schob das Medaillon hinterher. „Und wie bringe ich dich jetzt nach Indien?", fragte ich mich leise und strich dem Wolf dabei über den Kopf, da setzte er sich auf einmal hin und spitzte neugierig die Ohren. „Was ist mit dir?", flüsterte ich. Die bernsteinfarbenen Augen des Wolfes sahen mich abwartend an, da spürte ich auf einmal ein Kribbeln an meinem Hals. Es wurde stärker und breitete sich auf meinen ganzen Körper aus. „Was ist das?", fragte ich eher mich selbst, als es plötzlich begann.
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Wolfsmädchen
FantasyHast du dich jemals alleine gefühlt? Niemand war für dich da? Niemand steht hinter dir? Alle sind gegen dich oder mobben dich sogar? Dann weißt du, wie ich mich mein ganzes bisheriges Leben lang gefühlt habe. Nach dem rätselhaften Tod meiner Mutter...