9) Jagd

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Ich spürte die Angst des Tieres, als ich mich mit einem großen Satz auf es stürzte und es mit meinen Vorderpfoten auf den Boden drückte. Braunes Fell versperrte mir die Sicht, als das Kaninchen mit den starken Hinterläufen nach mir trat. Ich biss zu und sofort hörte das Zappeln auf. Ich schmeckte das süße Blut des Tieres und leckte mir die dicke, warme Flüssigkeit von den spitzen Zähnen. Der indische Wolf blieb neben mir stehen. Er sah mir tief in die Augen und ich spürte wieder eine Botschaft in meinen Geist sickern. Gut gemacht. Es war mein elfter Versuch gewesen. Kaninchen waren unglaublich schnell. Doch ich war noch immer verwundert, wie der Wolf es schaffte, mir diese Nachrichten zukommen zu lassen. Inzwischen war es einfacher, sie zu empfangen, doch ich hatte es bisher noch nicht geschafft, ihm eine Botschaft zu übermitteln. Es war dunkel geworden. Ich kauerte mich neben meine Beute und versenkte meine Zähne in dem rohen Fleisch. Der indische Wolf legte sich neben mich. Ich schob das Kaninchen mit einer Pfote in seine Richtung und er stürzte sich förmlich darauf. Nach kurzer Zeit waren nur noch die Knochen übrig und das dickflüssige Blut, dass auch mir auf im Gebiss klebte, überdeckte das weiß seiner spitzen Zähne. Er streckte sich und legte schließlich den Kopf zwischen die Vorderläufe. Doch ich stand auf. Ich hatte etwas vergessen. Mein Rucksack. Es war nicht viel Wertvolles darin, aber meine Jacke mit meinem Medaillon war noch dort! Ich sprintete los. Ich wusste nicht wohin, aber meine Instinkte übernahmen die Kontrolle. Ich lief im Zickzack, in eine Richtung. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war oder wo ich hinrannte, aber ich vertraute auf dieses Gefühl, das die Bewegungen meines Körpers steuerte und mich führte. Und dann war ich da. Ich stoppte direkt vor meinem Rucksack. Ich wollte danach greifen, doch ich konnte nur mit meinen Krallen über den Stoff kratzen. Da ich nicht wusste, wie ich mich zurückverwandeln sollte, legte ich mich einfach auf den Boden. Sobald ich lag, überrollte mich die Erschöpfung und ich spürte die Müdigkeit, die ich vorher verdrängt hatte. Ich war schon fast eingeschlafen, als der indische Wolf zwischen den Bäumen hervorkam. Er trabte auf mich zu, ließ sich neben mir zu Boden und legte seinen Kopf auf meinen Rücken.

Etwas Nasses berührte mein Gesicht und ich öffnete die Augen. Bernsteinfarbene Augen schwebten direkt über mir. Dahinter leuchtete der Himmel in wunderschönen Rot, Orange und Gelbtönen. Mit einer Hand schob ich seinen Kopf weg, dann richtete ich mich auf. Erst da fiel mir auf, dass ich wieder ein Mensch war. Und nackt. Meine Klamotten hatte ich ja nach meiner Verwandlung abgestreift. Jetzt merkte ich auch wie kalt es war. Ich sah mich um. Neben meinem Rucksack lagen meine Jacke, meine noch heile Hose und mein zerstörtes Oberteil. Die Hose konnte ich noch tragen, aber der Pullover war nicht mehr zu gebrauchen. Also stopfte ich ihn nur in meinen Rucksack und zog stattdessen meine Jacke an. Als ich aufstand, fielen mir wieder meine Haare ins Gesicht. In der Wildnis waren lange Haare nicht praktisch. Da fiel mir etwas ein und ich begann in meinem Rucksack zu kramen, bis ich plötzlich das kalte Metall spürte. Es war ein Küchenmesser mit einem grellgelben Griff. Mit einer Hand packte ich es, mit der anderen Hand fasste ich meine Haare zusammen. Es ging schnell. Ein sauberer Schnitt und ich hatte eine Kurzhaarfrisur. Mit den Fingern kämmte ich noch meine restlichen Haare und befreite sie von Zweigen und Blättern. „Na? Wollen wir uns was zum Frühstück besorgen?", fragte ich. Der indische Wolf heulte übermütig. „Wie verwandle ich mich jetzt?" Ich hatte keine Ahnung, wie das funktionierte. Da zuckte auf einmal ein stechender Schmerz durch den Kopf und mir wurde schwarz vor den Augen. Da tauchte ein Bild vor meinem inneren Auge auf. Ein Wolf. Ein Grauwolf. Das war ich. Da spürte ich wieder eine Nachricht des indischen Wolfes. Sehe dich, wie du als Wolf bist. Spüre dich, wie du als Wolf bist. Sei du, wie du als Wolf bist. Und genau das tat ich. 

WolfsmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt