6) Das Jaulen des Wolfes

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Ich rannte direkt auf den Wald zu. Schneller und schneller. Es dauerte nicht lange, da hörte ich Stimmen hinter mir. Es waren vielleicht fünf. Sie verfolgten mich. Im Rennen schnürte ich mir den Rucksack auf dem Rücken fest. Ich war noch nie im Wald gewesen und doch kannte ich ihn gut. Geschickt rannte ich um die Bäume und ihren Äste herum. Ich sprang über Wurzeln und wich Löchern aus, als hätte ich nie etwas anderes getan. Und ich genoss es. Trotz der Angst, die wie ein Tier in mir nistete und mit jedem Schritt, den ich näher kommen hörte, größer wurde. Ich blickte zurück. Und das war mein Fehler. Der Schlamm spritzte zu allen Seiten auf, als ich mit beiden Füßen hineintrat. Ich blieb stecken. Die Stimmen kamen näher. Verzweifelt versuchte ich, aus dem Schlamm heraus zu kommen, doch vergebens. Ich hatte keine andere Wahl. Ich öffnete meine Schnürsenkel. Sockig stolperte ich weiter. Als ich jedoch auf dem Moos ausrutschte, zog ich auch meine Socken aus und stopfte sie mir in die Jackentasche. Weiter, tiefer in den Wald. Meine Zehen gruben sich bei jedem Schritt tief in die kalte Erde, die sie vertrauter anfühlte als alles, was ich je in meinem Leben berührt hatte. Im Vorbeirennen strich ich mit den Fingern über die Rinde der Bäume. Es fühlte sich wunderbar an. Manche waren tief zerfurcht, andere ganz glatt. Aber alle strahlten dieselbe Vertrautheit aus. Ich legte den Kopf in den Nacken und stieß einen Laut aus, der mich selber erschrecken ließ. Es war ein Jaulen. Wie von einem Wolf. Als wäre er nach Jahren endlich nach Hause zurückgekehrt. Die Schritte hinter mir stoppten abrupt. „Was war das?", hörte ich die Stimme einer jungen Frau ängstlich fragen. Leise drosselte ich mein Tempo. Als ich schließlich stoppte, presste ich mich an die warme Rinde eines Baumes. Er schien breiter zu werden, als wollte er mich vor den Blicken der anderen Menschen schützen, doch das bildete ich mir sicher nur ein. Meine Verfolger waren sichtlich unsicherer geworden. „Wir sollten zurück gehen", hörte ich wieder dieselbe ängstliche Frauenstimme. „Nein! Wir müssen erst das Mädchen finden", sagte ein Mann. Er versuchte entschlossen zu klingen, aber ich hörte die Angst in seiner Stimme. Ich legte den Kopf erneut in den Nacken und jaulte noch einmal. Doch diesmal klang es nicht glücklich. Diesmal war es ganz anders. Aggressiv. Drohend. Grollend. Mehrere Stimmen schrien, dann ertönten wieder Schritte, doch diesmal entfernten sie sich von mir. „Wartet! Was ist mit dem Mädchen?", rief einer der Männer. Er bekam keine Antwort, denn er war der einzige, der stehen geblieben war. Ich hatte keine Ahnung, woher ich das wusste, schließlich konnte ich ihn nicht sehen. Ich schlich ein paar Schritte in seine Richtung und jaulte wieder. Nun rannte auch er.

Langsam wurde es dunkel. Ich war weiter in den Wald gelaufen. Meine Füße waren wund von dem vielen Laufen, das ich nicht gewöhnt war. Meine Kleidung war dreckig und zerrissen. Meine Haare waren verfilzt und übersäht von Blättern und Zweigen. Erschöpft hielt ich an und setzte mich an den Fuß eines Baumes. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Es war mindestens drei Stunden her, dass ich in den Wald gerannt war. Ich seufzte erschöpft, schloss die Augen und lehnte meinen Kopf an den Baumstamm. Ich war müde, traurig, wütend, glücklich und erleichtert zu gleich. Traurig, weil Marie nicht hier war. Wütend, weil mein Plan doch eigentlich dumm und unüberlegt war. Glücklich, will ich endlich im Wald war. Und erleichtert, will die Aufseher mich nicht gekriegt hatten. Mein Magen knurrte. Ich zog mir den Rucksack vom Rücken und öffnete ihn. Der Wind frischte auf und peitschte mir meine Haare ins Gesicht. Eigentlich mochte ich sie und hatte sie deshalb auch bis zur Taille wachsen lassen. Doch jetzt waren sie mehr als unpraktische. Genervt zog ich einen langen, dünnen Zweig, der vor meinem Gesicht baumelte, aus meinem Haar und warf ihn weg. Bevor ich in meinem Rucksack kramen konnte, hatte ich bereits wieder einen Vorhang aus Haaren vor dem Gesicht. Genervt schob ich ihn beiseite und sah mich um. Mein Blick fiel auf den Zweig, der mir eben noch in den verfilzten Haaren gehangen hatte. Unter Protest meiner schmerzenden Glieder stand ich auf und holte ich den Zweig zurück. Als ich wieder saß, bog ich ihn zu einem Kreis und zog meine Haare hindurch. Mein Magen knurrte wieder. Ich wandte mich erneut meinem Rucksack zu und zog mehrere Plastiktüten heraus, deren Inhalt aus Frau Griesgrams geheimen Essenslager stammte. Obst, Gemüse, Fleisch, Brot... Es gab alles, was man sich nur wünschen konnte. Ich nahm eine Karotte, die frischer aussah als alle, was ich jemals gegessen hatte. Gierig versengte ich meine Zähne in das saftige Gemüse und begann zu kauen. Ich aß und aß. Viel hatte ich nicht eingepackt und schließlich war nur noch eine Tüte mit mehreren rohen Stücken Fleisch übrig. Ich zog eine Packung Streichhölzer aus meinem Rucksack, mit dem ich ein Lagerfeuer entzünden wollte. Ich weiß, dass war keine gute Idee, aber ich wollte das Fleisch auch nicht roh essen. Doch ich kam nicht dazu, irgendetwas anzuzünden. Ein komisches Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus. Ich hob den Kopf und blickte direkt in zwei bernsteinfarbene Augen.

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