14) Gefangen

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Die Stimme lies nicht nur mich, sondern auch die Köchin zusammen zucken. Doch sie fing sich schneller als ich. „Dieses Mädchen hat den ganzen Topf Gulasch gegessen! Und sie hat mich gebissen! Ich habe keine Ahnung wie sie rein gekommen ist!" Während sie sprach, drehte sie sich um und ich sah den Mann. Er trug einen schicken Anzug und hatte ein hässliches Grinsen im Gesicht. Nach drei schnellen Schritten seiner langen Beine stand er vor mir. Er war ausgesprochen schlank, aber nicht muskulös, und fast zwei Köpfe größer als ich. Außerdem stank er nach Zigaretten. „Na du kleiner Engel? Was machst du denn hier? Willst du dem netten Onkel Hugo nicht verraten, wie du in mein bescheidenes Haus gekommen bist?" Ein Knurren entwich meiner Kehle und erreichte genau das, was ich gehofft hatte. „Onkel Hugo" zuckte zurück. „Das ist aber nicht sehr nett", sagte er mit tadelndem Gesichtsausdruck. „Netter als alles, was Sie getan haben!", fauchte ich zurück. „Ich weiß alles! Sie lassen illegal Wölfe aus Indien hier hertransportieren und stecken sie dann in winzige Käfige." Ich war so wütend, dass ich mich zusammenreißen musste, um mich nicht in einen Wolf zu verwandeln und ihn anzugreifen. Der Mann schmunzelte, doch er wirkte nicht amüsiert. „Nein, das stimmt nicht. Ich habe nur einen indischen Wolf. Und er ist nicht mal besonders hübsch." „Soll ich die Polizei rufen, Herr Hansen?" „Nein, ich kümmere mich selbst darum. Sie können gehen." Die Köchin ließ meinen Arm los. Ich nutze den Moment und rannte los. Ich hastete durch den Flur und versuchte möglichst keine Geräusche zu machen, um den indischen Wolf zu hören. Als ich die Wendeltreppe erreichte, die nach oben führte zögerte ich nicht. Ich nahm immer zwei Schritte auf einmal. Ein paar Mal stolperte ich und flog fast hin, aber ich konnte mich immer im letzten Moment noch am Geländer fest halten. Schon war ich oben. „Wo bist du?", rief ich verzweifelt in den Flur. Hinter mir hörte ich die Schritte des Mannes, der hinter mir die Treppe hoch hastete. Auf gut Glück riss ich die erste Tür auf. Eine Bibliothek. Nächste Tür. Ein Schlafzimmer. Nächste Tür. Ein Wohnzimmer. Ich griff gerade nach der nächsten Türklinke, als mir der beißende Gestank nach Zigaretten in die Nase drang. Zwei Arme packten mich von hinten um die Taille. Ich schrie, trat und schlug um mich, als ich hochgehoben wurde, doch da knallte mein Kopf mit voller Wucht gegen die Wand. Für zwei Sekunden wurde mir schwarz vor Augen. Ein dumpfer Schmerz machte sich in meinem Kopf breit und ich spürte, wie sich ganz plötzlich Erschöpfung wie eine weiche Decke über mir breitmachte. „Du willst zu den Wölfen? Das kannst du haben", zischte mir der Mann ins Ohr. Er stieß eine Tür am Ende des Flures auf und nach ein paar Schritten warf er mich auf den Boden. Heftig blinzelnd versuchte ich etwas zu erkennen, doch es war zwecklos. Ich hörte das Geräusch von Metall, das auf Metall schlug, dann ein Schlüssel, der in einem Schloss herumgedreht wurde und schließlich eine Tür, die zuschlug. Dann verlor ich das Bewusstsein.

Ein heftiger Schmerz durchzuckte meine Wade und brachte mich wieder zurück aus der weichen Dunkelheit. Ich richtete mich vorsichtig auf und betastete meine Wade. Ein Biss. Blut tropfte aus der Wunde und bildete eine Pfütze auf dem hölzernen Boden. Ich blickte mich um. Alles war so verschwommen und mein Kopf tat höllisch weh. Ich sah ein großes Zimmer mit pissgelber Tapete durch silberne Metallstäbe. Ich war in einem Käfig. Neben mir, auch in einem Käfig, stand der indische Wolf und sah besorg zu mir rüber. Tränen stiegen mir in die Augen und machten meine Sicht noch unschärfer. „Es tut mir leid", schluchzte ich, doch der indische Wolf schüttelte nur seinen Kopf und sah mich mit erschöpften, bernsteinfarbenen Augen an. Ich fasste mir wieder an den Kopf. Hatte ich eine Gehirnerschütterung? Was auch immer es war, es war schrecklich! Mit Mühe rutschte ich zur Tür meines Käfigs und betastete das Schloss. Es war ein großes, metallenes Schloss. Ich würde es niemals als Mensch aufbekommen. Als Wolf jedoch... Die Verwandlung ging schnell, doch als das erste Haar auf meiner Haut spross, wurde der dumpfe Schmerz in meinem Kopf größer. Ein gleißend helles Licht blendete mich und ich musste die Augen schließen. Zwei Sekunden besser war es vorbei. Der Schmerz ließ nach und verschwand und als ich die Augen öffnete, sah ich wieder so scharf, wie ich sonst als Wolf sah. Jetzt konnte ich noch mehr um mich herum erkennen. Es waren mehr als nur zwei Käfige. Es waren viele und die meisten waren belegt. Ein Polarwolf. Ein ägyptischer Wolf. Ein Timberwolf. Ein arabischer Wolf. Und jetzt auch noch ein indischer Wolf und ein Grauwolf. Dieser Mann hatte seltene Wolfe aus aller Welt zu sich ins Haus geholt. Und man sah ihnen an, dass ihnen das gar nicht gut tat. Sie waren allesamt erschöpft, abgemagert und hoffnungslos. Ich sah es in ihren Augen. Wut machte sich in mir breit. Wie können Menschen nur so grausam sein? Das war herzlos. Erst, als mein Kiefer zu schmerzen begann, merkte ich, dass ich in die Metallstangen gebissen hatte. Sie waren eingedellt. Hoffnung keimte in mir auf. Noch konnte ich es schaffen. Noch konnte ich den indischen Wolf retten und vier andere Wolfe auch. Wieder biss ich zu. Und noch einmal. Die erste Stange brach. Die Wölfe waren aufgestanden und sahen mir zu. Da wehte eine Botschaft in meinen Geist. Eisig wie ein Schneesturm. Rette uns, Wolfsmädchen.

WolfsmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt