Der Sonntag nahte und ich freute mich darauf, endlich wieder aus dem Haus zu kommen. Auch wenn es nur kurz war, der Waldrand war die einzige Stelle, an der ich der erdrückenden Trostlosigkeit des Waisenhauses entfliehen konnte. Als es endlich so weit war, war ich nicht die einzige, die ungeduldig an dem großen Tor im Zaun vor dem Waisenhaus wartete. Keiner, der hier lebte, mochte dieses Haus besonders. Sie waren alle nur hier, weil es keine bessere Alternative gab. Allerdings durften nur Kinder ab sechs Jahren mit zum Picknick. Die kleineren mussten innerhalb des Zaunes bleiben. „Aus dem Weg!", schrie jemand. Es war Frau Griesgram. Sie bahnte sich unsanft einen Weg durch die Kindermengen zum Tor. Kaum, dass sie es aufgeschlossen hatte, stürmten die Kinder hinaus und ich wurde einfach mitgetragen. Ich atmete die Luft ein, die außerhalb des Zaunes irgendwie freier schmeckte. Die Aufseher umkreisten uns, wie die Hunde eine Schafherde. So bewegten wir uns in Richtung Wald. Am Waldrand breiteten die Erwachsenen eine riesige Decke aus, auf die wir uns alle setzten und packten dann Massen von Essen aus, die sie anschließend an alle Kinder verteilten. Wie immer schob ich mich so lange an den anderen vorbei, bis ich so nah wie möglich am Wald saß. Die Bäume waren nur etwas zwei Meter von mir entfernt. So nah und doch so weit weg. Denn direkt vor mir saß eine der Aufseher. Seit ich mehrmals versucht hatte, wenigstens für kurze Zeit in den Wald zu flüchten, behielt mich immer einer der Aufseher im Auge. Wie immer aß ich nichts von dem, was man mir reichte. Ich war verloren. Schon wieder. Ich hatte mein Herz verloren. An den Wald. Meine Augen verliefen sich zwischen den kräftigen Stämmen der Bäume und das Moos aus dem Waldboden sah so weich aus, das ich mich am liebsten darin gewälzt hätte. Die Stimmen der Aufseher und der anderen Kinder schienen von ganz weit weg zu kommen. Ich hörte nur noch die Geräusche des Waldes. Das Rascheln der Blätter. Das Zwitschern der Vögel. Das Pfeifen des Windes. An jedem Tag, den ich im Waisenhaus verbrachte, sehnte ich mich nach ihm. Ich hatte mir schon viele Pläne überlegt, um zu fliehen, doch sie waren alle gescheitert. Doch ich wollte nicht aufgeben. Ich würde einen Weg finden. Irgendwann.
Es wurde später. Das meiste Essen war schon verputzt und viele begannen zu frieren. Ich starrte immer noch wie hypnotisiert auf den Wald, als ich plötzlich etwas entdeckte. Zwei Augen aus bernsteinfarbenem Braun. Ich hatte das Gefühl, dass sie mir direkt in die Seele blickten. Neben mir wurden die Kinder auf einmal unruhig. Ein Mädchen löste sich aus der Masse, entwischte den Aufsehern und rannte auf den Wald zu. Ich schaute zurück zu den Augen, doch sie waren verschwunden. Da erst erkannte ich das Mädchen. Doch es war schon zu spät. Ich schrie auf, als ein sandfarbener Körper auf einmal aus dem Wald sprang und auf Marie zuflog. Ihre Augen weiteten sich und ihr Mund war zu einem Schrei geöffnet, als der Wolf sie in die Wade biss. Die anderen Kinder schrien durcheinander und wichen zurück. Auch die Aufseher waren starr vor Schock. Ich war die Erste, die reagierte. Ich sprang auf und rannte auf den Wolf zu. „Stopp!", schrie ich. Der Wolf ließ von Marie ab, die kraftlos und mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Boden sackte. Dann wandte er sich mir zu. Man sah seinem Körper an, dass er mal kräftig gewesen war, doch nun war er abgemagert. Seine Schultern reichten mir nur auf etwa die Mitte meiner Oberschenkel, doch er hatte seine Lefzen drohend hochgezogen und entblößte so seine spitzen Zähne. Langsam wich ich zurück, als der Wolf auf mich zukam. Er knurrte bedrohlich und der Hunger in seinen bernsteinfarbenen Augen, die den meinen so sehr ähnelten, war nicht zu übersehen. Doch ich sah auch noch etwas anderes in ihnen. Angst. Verzweiflung. Verlorenheit. Und unbändige Wut. Und auf einmal hatte ich keine Angst mehr. Ich blieb stehen und ging in die Hocke. In diesem Moment hörte ich eine Stimme hinter mir: „Hau ab du dreckiges Vieh!" Frau Griesgram kam mit einem Picknickkorb in der Hand auf den Wolf zu und schlug damit nach ihm. Der Wolf flüchtete. Doch kurz vor dem Waldrand blieb er stehen und schaute noch einmal zurück. Er sah mich an. Mit bernsteinfarbenen Augen. Dann verschwand er.
Eine Viertelstunde später kam der Krankenwagen und nahm Marie mit. Alle anderen Kinder wurden sofort wieder in das Waisenhaus gebracht. Ich verbrachte den Rest des Tages in der kleinen Bibliothek. Dort suchte ich Informationen über den Wolf, der Marie angegriffen hatte. Unter anderem fand ich Steckbriefe in einem Buch über Wölfe. Ich blätterte das Buch durch und hielt bei einer Seite an. Das Bild, das über dem Steckbrief prangte, sah dem Wolf aus dem Wald sehr ähnlich. Ich begann zu lesen.
Name: indischer Wolf
Lateinischer Name: Canis lupus pallipes
Verbreitung: Indien, Pakistan (z.B. Halbwüsten Gujarats)
Lebensraum: Steppen, Wüsten
Gewicht: 15 bis 20kg
Größe: ca. 90cm lang, ca. 66cm hoch
Aussehen: klein; gelbbraunes, sandfarbenes oder rötliches Fell; kurzes, dichtes Fell; kein Unterfell
Sonstiges: stark gefährdet, steht in Indien seit 1972 unter Schutz
Das war der Wolf! Doch wie war er hier her gekommen? Es war klar, dass er das nicht alleine geschafft haben könnte. Warum sollte ein Wolf, der eigentlich in einer heißen Wüste lebt, auch ins kalte Deutschland kommen? Also musste ihn jemand hier her gebracht haben. Nur, warum? Ich hatte keine Ahnung. Aber ich nahm mir vor, es herauszufinden.
Ich saß auf der Picknickdecke am Waldrand und sah zwischen den Bäumen zwei bernsteinfarbene Augen. Sie sahen mich direkt an. Neben mir sprang plötzlich ein Mädchen auf den Wald zu und die Augen verschwanden. Kurz darauf schoss ein Wolf aus dem Dickicht, stürzte sich auf das Mädchen und biss ihr in die Wade. Sie fiel zu Boden und ich konnte erkennen, dass es Marie war. „Nein!", schrie ich. Der Wolf ließ von ihr ab und kam nun knurrend auf mich zu. Da ertönte auf einmal ein Schuss. Er traf Marie noch im Fallen in die Brust. Ich ignorierte den Wolf und lief entsetzt auf Marie zu. Ich kniete mich neben sie und sah plötzlich nicht mehr das Gesicht meiner Zimmergenossin neben mir, sondern das einer erwachsenen Frau mit blasser Haut und schwarzen Haaren. „Das ist alles deine schuld!", sagte sie mit der barschen Stimme von Frau Griesgram. Verzweifelt drehte ich mich um. Und dann sprang der Wolf auf mich zu.
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Wolfsmädchen
FantasyHast du dich jemals alleine gefühlt? Niemand war für dich da? Niemand steht hinter dir? Alle sind gegen dich oder mobben dich sogar? Dann weißt du, wie ich mich mein ganzes bisheriges Leben lang gefühlt habe. Nach dem rätselhaften Tod meiner Mutter...