5) List beim Psychiater

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Als wir am Waisenhaus ankamen, wollte ich aus dem Auto springen und in den Wald rennen, doch die Aufseherin hatte das anscheinend bereits kommen sehen. Bevor ich auch nur einen Schritt tun konnte, hatte sie meinen Arm in einem eisernen Griff gepackt, der mir alle Adern abschnürte. Erst als wir innerhalb des Zaunes waren, ließ sie mich los. Ich sprang das zugeschlossene Tor an und versuchte hinaufzuklettern, doch es war zu hoch. Ich rutschte immer wieder hinunter. Das Metall der Stäbe brannte kalt an meinen Händen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ ich es los und sank zu Boden. Ich zitterte vor Wut und Angst und dicke Tränen liefen mir über die Wange. Eine von ihnen viel durch meine zitternden Lippen auf meine Zunge. Sie schmeckte unwirklich süß. Wie eine Lüge, die man kleinen Kindern erzählte, damit sie keine Angst haben. Das Monster unter dem Bett gibt es nicht. Die böse, kinderfressende Hexe wurde längst von dem Prinzen verjagt. Die schlafende Prinzessin ist wieder aufgewacht. Lügen. Alles Lügen. Das Monster gab es doch, die Hexe war noch da und die Prinzessin wurde nie gerettet.

Ich aß den ganzen Tag keinen Bissen. Ich hielt mich in meinem Zimmer auf und hatte die Tür mit einem Stuhl verbarrikadiert, damit niemand herein kam. Als ich mich endlich halbwegs beruhigt hatte, fügte ich zu meiner gedanklichen Liste ein paar neue Fragen hinzu. Warum hat Marie mir nie erzählt, dass sie meine Schwester ist? Warum hat Marie nie mit jemandem gesprochen? Wieso meinte Marie, dass meine Aufgabe wäre, den Wolf zurück in seine Heimat zu bringen? Um die Antworten zu finden, musste ich hier raus. Und wohin sollte ich gehen, wenn nicht in den Wald? Und wenn ich eh schon da war, dann konnte ich auch den Wolf finden und nach Hause bringen. Nachdem ich die halbe Nacht wach gelegen hatte, hatte ich endlich eine Idee, wie ich entkommen konnte. Ich würde schnell sein müssen. Sehr schnell. Und vorher würde ich das Vertrauen von den Aufsehern zumindest ansatzweise haben. Es würde nicht einfach werden. Aber ich musste es versuchen.

Zwei Wochen vergingen. Marie war immer noch nicht entlassen, da sich der Biss anscheinend entzündet hatte. Ich wollte sie unbedingt noch einmal besuchen, doch Frau Griesgram ließ mich nicht. Dafür benahm ich mich in den zwei Wochen vorbildlich. Zumindest versuchte ich es. Ich half der Köchin beim Abwasch, putzte freiwillig alle Tafeln in den Klassenzimmern und machte gut im Unterricht mit. Ich hoffte, dass es reichen würde. Schließlich ging ich zu Frau Griesgram. Vorsichtig klopfte ich an ihre Bürotür. „Wer da?", keifte sie. „Ich bin es", sagte ich. Stille. „Komm rein", sagte sie schließlich, klang aber nicht begeistert. Ich öffnete vorsichtig die Tür und trat in das Zimmer. Frau Griesgram sah mich über ihre hässliche rosafarbene Brille hinweg misstrauisch an. Langsam schloss ich die Tür und ging auf den Schreibtisch zu, kurz davor stoppte ich. Mit all meinem schauspielerischen Können begann ich nun zu sprechen. Meine Stimme war leise und ich schaffte es, dass Verzweiflung darin mitschwang. „Ich hatte wieder diese Albträume. Sie haben doch gesagt, dass es eine gute Idee wäre, mal zu einem Psychiater zu gehen. Ich brauche wirklich Hilfe." Frau Griesgram sah mich einfach nur stumm an. „Bitte!", flehte ich leise. Als sie immer noch nichts sagte, presste ich ein paar Tränen hervor. Endlich reagierte sie. „Na gut. Aber wenn du irgendwelche Dummheiten anstellst, darfst du nie wieder auf einen Sonntagsausflug mit!", sagte sie und verengte ihre Augen drohend zu Schlitzen. Ich nickte.

Nach zwei Tagen war es auch schon so weit. Frau Griesgram persönlich fuhr mich. Die Psychiaterin war nett und ich tat mein Bestes, um konzentriert und wegen meiner Albträume besorgt zu wirken. Sie gab mir Tipps, aber ich hörte nicht wirklich zu. In meinem Kopf ging ich immer wieder den Plan durch. Er musste einfach klappen. Auf der Rückfahrt blickte ich schweigend aus dem Fenster. Als wir ankamen, war die Autotür, wie erwartet, noch abgeschlossen. Frau Griesgram öffnete sie von außen und griff nach meinem Arm. Dafür, dass sie so unsportlich war, hatte sie erstaunlich viel Kraft. Am Tor angelangt kramte sie den Schlüssel heraus, ohne mich loszulassen. Als sie den Schlüssel im Schloss herumgedreht und das Tor geöffnet hatte, reagierte ich schnell. Schneller, als sie es vorhersehen könnte. Schneller, als ich selbst es gedacht hätte. Ich trat Frau Griesgram so fest es ging ans Schienbein. Sie schrie auf, ließ mich los und griff sich an die getroffene Stelle. Flink schnappte ich mir meinen Rucksack, den ich einen Tag zuvor in einem der Büsche platziert hatte, und rannte los. 

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