22) Medaillon

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Ich öffnete vorsichtig die Tür. Blendendes Weiß strahlte mir entgegen, als ich das Zimmer betrat. Es war immer noch nur ein Bett belegt. Ich trat heran und ließ mich auf dem Stuhl nieder, der neben dem Bett stand. „Wie geht es dir?" Marie lächelte. „Besser. Es wird sicher nicht mehr lange dauern, bis ich das Krankenhaus verlassen kann", antwortet sie mit ihrer wundervollen Stimme. Eine Weile schwiegen wir beide. Ich sah aus dem Fenster auf die Straße. Autos fuhren vorbei, Fußgänger eilten an den Häusern vorbei und Radfahrer klingelten sich durch den Verkehr. Dann unterbrach Marie die Stille. „Es tut mir leid, dass ich dich letztes Mal im Dunkeln tappen ließ. Ich konnte nicht mehr sagen. Ich konnte nicht riskieren, dass es wieder jemand hört. Sonst..." „...sonst wärst du wieder dem Bann unterworfen worden", beendete ich ihren Satz. Überrascht sah sie mich an. „Der indische Wolf hat es mir erklärt. Warum du nie gesprochen hast. Und warum du auf ihn zu in den Wald gelaufen bist. Konntest du eigentlich gedanklich mit ihm kommunizieren?" „Ja. Er hat mich gehört und mir geholfen. Hast du dich schon verwandelt? Wo ist der Wolf jetzt? Wieviel weißt du schon?" Ich lächelte. Dann begann ich zu erzählen. Wie ich nach meinem ersten Besuch im Krankenhaus Frau Griesgram entwischt war. Wie ich dem Wolf im Wald begegnet war. Wie er mir das Verwandeln, das Kommunizieren und das Jagen beigebracht hatte. Wie ich in die Stadt gegangen war und dort den Antiquitätenladen besucht hatte. Wie die Bilder aus dem Gedächtnis des indischen Wolfes auf mich eingestürmt warnen. Wie ich ihn gesucht und gefunden hatte. Wie ich aus der Villa entkommen war. Wie ich meinen Vater der Polizei ausgeliefert hatte. Ich erzählte ihr alles, ausnahmslos. Ich vertraute ihr. Als ich geendet hatte, schwieg sie eine Weile. „Das ist ganz schon viel", sagte sie schließlich. „Das ist noch nicht alles. Ich habe noch etwas vor. Vielleicht könntest du mir dabei helfen?" „Ich helfe, wenn ich kann. Hast du noch Fragen?" Ein kurzer Moment der Stille trat ein. „Wie... wie war sie so... als Mutter?", fragte ich. Meine Stimme brach und ich konnte nur mit Mühe einen Schluchzer unterdrücken. „Ich weiß es nicht. Ich war erst zwei Jahre, als sie mich weggab." „Warum?", fragte ich überrascht. „Sie konnte es mir nicht persönlich sagen. Schließlich können wir die Medaillons erst nach der ersten Verwandlung nutzen. Aber sie hat mir einen Brief hinterlassen. Darin hat sie mir geschrieben, was ich bin und was ich kann. Und, warum sie mich weggegeben hat. Ich war erst zwei Jahre alt, als mein Vater bei einem Autounfall starb. Er wusste nicht, was meine Mutter war. Sie hatte aber keinen Job, da sie mich mit ihrer Jagdbeute versorgen wollte. Ihr wurde das Sorgerecht für mich entzogen. Und ich kam in eine Pflegefamilie." „Was hat es mit den Medaillons auf sich?" „Diese Medaillons sind magisch. In allen drei, deinem, meinem und dem von unserer Mutter, sind Fellhaare von ihr als Wolf. Das verbindet die Medaillons miteinander und wir können darüber miteinander sprechen. Aber erst nach der ersten Verwandlung." „Wie hast du dich zum ersten Mal verwandelt? Und warum warst du mit dem Bann belegt?" „Ich war mit meiner Pflegefamilie im Zoo. Da war ich etwa fünf Jahre alt. Ein Wolf dort hat mich gebissen und ich wurde ohnmächtig. Im Krankenhaus habe ich mich dann zum ersten Mal verwandelt. Das hat eine Krankenschwester gesehen und ich wurde mit dem Bann belegt. Weil ich nicht mehr mit ihnen redete, haben mich meine Adoptiveltern weggegeben. Ich bin in dem Waisenhaus gelandet." Wieder trat Stille ein. „Kannst du mir zeigen, wie man die Medaillons benutzt?" Marie lächelte. „Natürlich. Eigentlich ist das ganz einfach. Nun nimmst dein Medaillon in die Hand und denkst an den Menschen, mit dem du sprechen möchtest. Ich zeige es dir." Sie nahm das Metallion in eine Hand und schloss die Augen. Kurz darauf spürte ich, wie mich etwas in die Tiefe meines Bewusstseins zog.

Es war schwarz um mich herum. Vor mir leuchtete etwas. Marie berührte mich am Arm und sofort begann auch meine Haut mit Leuchten. „Hier war ich schon mal", stieß ich hervor. „Hier habe ich mit Mutter geredet. Kann sie, obwohl sie tot ist, auch mit uns Kontakt aufnehmen?" „Nein. Das musst du gewesen sein. Du hattest das Medaillon in der Hand, als du ohnmächtig geworden bist." Ich nickte zustimmend. Dann schloss ich die Augen. Meine Hand fuhr zu meinem Medaillon und meine Finger schlossen sich um das kalte Metall. Meine Gedanken wanderten zu einer großen, schlanken Frau mit weißer Haut und schwarzen Haare. Es fühlte sich an, als würde ich jemanden an einem Seil zu mir ziehen. Ich öffnete die Augen wieder. Weiße Haut auf weißer Haut. Sie begann zu leuchten. Tränen ließen das helle Blau ihrer Augen verschwimmen. Dann nahm sie uns beide in den Arm. „Meine Töchter. Stolzer könnte ich nicht sein."  

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