„Ahhhhh!" Schreiend wachte ich auf. „Was ist passiert?" Das Licht ging an und Frau Griesgram, die Besitzerin des Waisenhauses, öffnete die Tür. Ihre grauen, dünnen Haare waren in ein großes Handtuch eingewickelt und ihre hässliche knallpinke Katzenaugen-Brille hing etwas schief auf ihrer Nase. Sie trug einen deprimierend grauen Bademantel, dessen Gürtel tief in ihren wabbeligen Bauchspeck einschnitt. Eigentlich war ihr Name Müller, aber die Kinder des Waisenhauses hatten ihr aufgrund ihrer immer schlechten Laune diesen Namen gegeben. Ich fasste mir an die Stirn. „Ich...ich... hatte wieder einen Albtraum", stammelte ich. „Du solltest wirklich mal zu einem Psychiater gehen!", rief Frau Griesgram ärgerlich, bevor sie die Zimmertür so fest zuknallte, dass alle Wände wackelten. Ich ließ mich wieder in die Kissen sinken. Das Mädchen, Marie, mit dem ich das Zimmer teilte, hatte nichts gesagt. Sie sagte generell nichts, was wahrscheinlich an ihrer Vorgeschichte lag, die aber keiner kannte. Ich kann mich nicht erinnern, je keine Albträume gehabt zu haben. Ich hatte sie also schon mein ganzes Leben lang. Man könnte denken, dass man sich daran gewöhnt, doch das war nicht der Fall. An so etwas kann man sich nicht gewöhnen. Es war immer wieder aufs Neue schrecklich. Jedes Mal hatte ich Angst, aber sobald ich aufwachte, konnte ich mich an nichts erinnern. Gar nichts. Nur an die Tatsache, dass sie irgendwie schrecklich sein mussten. Es war Herbst und mein Geburtstag rückte näher. Ja, ich hatte im Winter Geburtstag. Ich wurde vor fast zwölf Jahren in einem Wald im Tiefschnee, neben der Leiche einer Frau, gefunden. Die Frau war an einer Schusswunde in der Brust gestorben. Sie hatte jedoch keine Papiere dabeigehabt und der Fall, wer sie war und wer sie getötet hat, konnte nie aufgeklärt werden. Alles was ich über sie wusste, hatte mir das Ehepaar erzählt, das mich gefunden und hier abgegeben hatte, bevor sie mit ihren vier Kindern aus Deutschland nach Südfrankreich gezogen waren. Die Frau sah mir ähnlich. Sie hatte das gleiche schwarze, glatte Haar und die gleiche blasse, fast weiße Haut wie ich. Nur ihre Augen waren anders. Sie hatte hellblaue Augen gehabt, meine jedoch waren von einem bernsteinfarbenen Braun, dass ich sonst noch bei niemandem gesehen hatte. Manchmal fragte ich mich, wer mein Vater war. Wo war er gewesen, als meine Mutter starb? War er auch tot oder lebte er noch irgendwo da draußen und wusste gar nichts von mir? Manchmal war ich total sauer auf ihn, weil er meine Mutter nicht beschützt hatte und dann merkte ich, wie unfair diese Einstellung war, da ich nichts über seine damalige Situation wusste. Meine Grübeleien wurden unterbrochen, als Marie plötzlich aus ihrem Bett stieg. Sie lief zum Fenster und schaute hinaus. Das Licht des Mondes lies ihre helle Haut blass wirken und ihre braunen Haare schimmern. Ich schätzte sie auf sechzehn. Sie sah aus wie ein gewöhnliches, schüchternes Mädchen. Die meisten Kinder dieses Waisenhauses sahen gewöhnlich aus. Ich war eine Ausnahme. Wegen meiner blassen Haut und meinen schwarzen Haaren wurde ich immer „das Vampirmädchen" genannt. Ich wurde immer gemieden, hatte noch nie Freunde gehabt und war oftmals sehr einsam gewesen. Doch ich hatte gelernt, damit umzugehen. Ich war stark. Doch Marie war nur ein kleines einsames Ding. Jedes Mal wenn sie beleidigt wurde, rannte sie in unser Zimmer und heulte dort mindestens zwei Stunden, bevor sie sich wieder heraus traute. „Was ist? Ist alles okay?", fragte ich sie. Sie sagte nichts. Wie immer. Sie blieb einfach nur so stehen und starrte aus dem Fenster. Als sie sich schließlich umdrehte, waren ihre Augen schreckgeweitet. Ich sprang aus dem Bett und lief zu ihr ans Fenster. Von hier aus sah man die Hinterseite des Waisenhauses. Das Grundstück war mit einem hohen Zaun eingezäunt, auf dem Stacheldraht angebracht war. Hinter dem Zaun erstreckte sich ein Wald ins Unendliche. Frau Griesgram und die anderen Aufseher erzählten uns immer Geschichten über blutrünstige Wölfe und brutale Eber, damit wir nicht versuchten, uns vom Grundstück zu schleichen. Mir hatte der Wald aber immer gefallen. Ich liebte seine Dunkelheit und Unvorhersehbarkeit. Und ich liebte seine Freiheit. Nur einmal in der Woche, am Sonntag, gingen Frau Griesgram und die anderen Aufseher mit allen Kindern hinaus aus dem Waisenhaus. Dann gingen wir zum Waldrand, dort wo es noch hell war, und machten ein Picknick im Gras. „Was ist da?", fragte ich Marie. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen. Sie sah wieder aus dem Fenster. Dann schloss sie ihren Mund wieder und schlüpfte zurück ins Bett unter ihre bestimmt sehr warme Decke. Verärgert schüttelte ich den Kopf. Was war nur los mit ihr? Ich sah noch einmal aus dem Fenster, bevor auch ich mich wieder schlafen legte.
DU LIEST GERADE
Wolfsmädchen
FantasiHast du dich jemals alleine gefühlt? Niemand war für dich da? Niemand steht hinter dir? Alle sind gegen dich oder mobben dich sogar? Dann weißt du, wie ich mich mein ganzes bisheriges Leben lang gefühlt habe. Nach dem rätselhaften Tod meiner Mutter...