12) Stadt

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Als erstes musste ich über die Straße. Grauer Asphalt schob die grüne Natur zur Seite. Doch wer genau hinschaute, sah, dass sich Risse bildeten, dass Blumen und Gras in diesen Rissen sprossen. Die Natur holt sich zurück, was der Mensch ihr gestohlen hat. Nach der Straße folgten Häuser. Beige, braun, grau, weiß, gelb, grün... Der Bürgersteig führte mich vorbei an Garten und Einfahrten, übersäht mit buntem Laub. Ich war überwältig. Und verängstigt. Es war alles so groß, bunt, laut. Ich mochte den Wald lieber, aber ich konnte nicht anders, als diese Welt auch ein bisschen zu bewundern. Alles hatte sein Schlechtes und jeder erkannte es, doch wer genau hinschaute, konnte auch in allem etwas Schönes finden. Irgendwann erreichte ich den ersten Supermarkt. Erst dort merkte ich, wie seltsam mich die Leute anschauten, aber ich dachte mir nichts dabei. Ich kaufte Brot, etwas Obst und viel rohes Fleisch. Nach dem Supermarkt fand ich noch ein Klamottengeschäft, wo ich mir ein schlichtes schwarzes, möglich billiges T-Shirt kaufte. Als ich mich dort in der Umkleide im Spiegel ansah, verstand ich endlich, warum die Leute mich so seltsam angestarrt hatten. Ich sah schrecklich aus. Ich trug keine Schuhe und meine Füße waren voller Schlamm. Meine Haare waren voller Blätter und Zweige, meine Kleidung war dreckig und teilweise zerrissen. Doch das war nicht das Erschreckendste an mir. Abgesehen davon, dass ich auch im Gesicht total dreckig war, hatte ich eine Wunde am Hals. Eine große Wunde. Das Blut war bereits getrocknet und bot ein beeindruckendes Bild, wie es aus den vielen Löchern floss. Dort hatte mich der indische Wolf gebissen. Nachdem ich das T-Shirt bezahlt hatte, wusch ich mir auf einer öffentlichen Toilette mein Gesicht und meinen Hals. Dann kämmte ich die Blätter und Zweige aus meinem Haar und zog das T-Shirt unter meine Jacke an.

Altmodische Uhren, bemalte Teller, silbernes Besteck, hölzerne Schreibtische und Schränke, alte Bücher mit vergilbtem Papier und zerflederten Einbänden, niedliche Porzellanpuppen, mit kunstvollen Schnitzereien übersäte Holzkästchen, dreckige und dennoch wunderschöne Gläser, bunt bemalte Vasen... Ich war gefangen. Gefangen in einer anderen Welt, die ich so gar nicht kannte, die mir aber dennoch den Atem raubte. Eigentlich hatte ich direkt zurück in den Wald gehen wollen, aber als ich die Gegenstände durch die offene Tür gesehen hatte, war es um mich bestehen. Der Laden war klein und vollgestellt mit allem Möglichen. Licht drang durch die staubigen Schaufenster und fiel auf die Gegenstände, die scheinbar ohne Sinn und Ordnung zusammengewürfelt herumstanden. Hinter der alten Theke aus dunklem Holz saß ein Mann mit dünnem grauen Haar und einer kleinen Brille mit goldenem Gestell und las in einem kleinen Büchlein mit dunkelgrünem Einband. Er hatte kurz aufgeblickt und gelächelt, als ich herein gekommen war, doch jetzt war er wieder in sein Buch vertieft. Ich strich mit den Fingern über die staubige Oberfläche eines Schreibtisches, da fiel mein Blick auf ein Gerät. Es hatte die große meiner Hand und sah irgendwie ... komisch aus. Ich nahm es vorsichtig in die Hand und ging damit zur Theke. „Entschuldigung? Was ist das?", fragte ich den Mann. Er blickte von seinem Büchlein auf und schenkte mir ein strahlendes Lächeln, bevor er erklärte: „Das ist ein Aufnahmegerät. Damit kannst du Geräusche aufnehmen und wieder abspielen. Dazu musst zu zum Aufnehmen auf diesen Knopf drücken. Und zum Abspielen auf diesen." Während er es erklärte, drückte er die Knöpfe „...drücken. Und zum Abspielen...", drang seine Stimme leicht verzerrt aus dem Apparat. „Das ist ja..." Weiter kam ich nicht, denn plötzlich schoss ein stechender Schmerz durch meinen Kopf und mir wurde schwarz vor Augen.


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