Kapitel 11

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"Was machst du denn hier?" fragte ich und konnte meinen überraschten Unterton nicht verbergen. Zuerst hatte ich Sorge, dass ich zu leise war, denn Minho starrte mich nur ausdruckslos an.
"Ich bringe dir ein paar Schulsachen. Du hast laut deinen Lehrern viel verpasst." Antworte er dann. Ohne meine Reaktion abzuwarten, drängte er sich an mir vorbei in die Wohnung. Perplex schloss ich die Tür und drehte mich zu ihm um. Er stand einfach da und sah mich abwartend an. "Willst du mir nichts zu trinken anbieten?"
"Ähm..." ich war zu verwirrt, und zugegebenermaßen etwas geschockt als dass ich ihm eine normale Antwort geben können.

Nie hätte ich gedacht, dass der Mann, der mich ständig herumschubst und mich offensichtlich nicht leiden kann, freiwillig bei mir auftaucht. Und wieso brachte er mir die Sachen und nicht meine Klassenkameraden? Ein genervtes Seufzen riss mich aus meinen Gedanken. Sein gelangweilter Blick sprach Bände. "Oh, klar, sorry!" Sagte ich deshalb schnell und lief hastig in die Küche. Diese war offen mit dem Eingangsbereich und dem Wohnzimmer verbunden, sodass er mir nicht folgen musste.

Als ich ihm einen Kaffee einschänkte, schielte ich zu ihm herüber. Er sah sich interessiert die Familienbilder an der Wand an. Meine Eltern legten viel Wert darauf, es so aussehen zu lassen, als wäre unsere Familie perfekt. Tja Überraschung, das war sie nicht. Aber warum interessierte ihn das? Ich beobachtete ihn etwas. Er hatte diese gewisse Ausstrahlung, die mich irgendwie in seinen Bann zog. Ich stand einfach da, mit dem Becher in der Hand und starrte ihn an. Seine Statur, seine Haare und vor allem sein Gesicht- dieser Junge verkörperte quasi die Schönheit. "Wieso starrst du mich so an, hm?"

Meine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf ihn und all meine Gedanken darüber, wie toll er war, waren auf einmal verschwunden. Denn auch wenn er schön war, sein Charakter war das komplette Gegenteil. "Ich-" fing ich an, doch die Worte blieben mir im Hals stecken. Was hatte ich überhaupt sagen wollen? Er zog eine Augenbraue nach oben und als er merkte, dass ich nicht fort fuhr, wirkte er genervt. "Kleiner, ich weiß, dass ich heiß bin aber ich hasse es, beobachtet zu werden." Ich nickte nur, ging zu ihm und reichte ihm den Becher.

Stumm stand ich neben ihm, während er den Kaffee trank, den ich ihm gerade gegeben hatte. Ich wusste absolut nicht worüber ich mit ihm reden könnte. Sollte ich überhaupt etwas sagen? Seine Anwesenheit machte mich nervös und ich wusste nicht einmal wieso. "Sind deine Eltern nicht da?" fragte er und zeigte auf ein Familien Foto, auf dem wir nebeneinander vor dem Meer standen und in die Kamera lächelten. Zu diesem Zeitpunkt war ich elf Jahre alt gewesen. "Noch nicht, die kommen erst später."

Meine Mutter war mit meinem Vater zu einer Familienfeier gefahren. Natürlich ohne mich.
Er nickte knapp, ohne seinen Blick von besagtem Bild abzuwenden. Ich spürte regelrecht wie sein Gehirn arbeitete. Er schien das Bild zu analysieren. Da seine Aufmerksamkeit eher dem Foto galt als mir, entschied ich mich dazu, den Gegenstand ebenfalls schweigend zu betrachten. Ich schaute mir unsere Fotos nie an, sie machten mich traurig und wütend. Auf jedem einzelnen sahen wir aus wie eine fröhliche Familie und dass das absolut nichts mit der Realität zu tun hatte, störte mich. Meine Eltern waren allerdings Profis darin, es so aussehen zu lassen. War es zu viel verlangt, dass ich wollte, dass die positive Energie, die das Bild ausstrahlte, echt war? Ich wollte nichts mehr als Eltern, die mich liebten. Ich wollte, dass sie mir sagten, dass sie stolz auf mich waren und sich um mich kümmerten.

All das hatte ich nie erfahren, musste mich schon als Kind selbst um mich kümmern. Naja so viel wie es einem Kind eben möglich war. Meine Eltern sorgten dafür, dass ich es einigermaßen gut hatte und dafür war ich dankbar. Aber ich merkte, dass ich eine Last für sie war. Das Gefühl war inzwischen so schlimm, dass ich nicht mehr oft nach draußen ging wenn ich nicht musste, denn jedes Mal wenn ich Eltern mit ihren Kindern sah, zog mich das runter. Selbst wenn sie nur zusammen spazieren gingen. So etwas banales würde mir schon reichen.

~Flashback~ [TW: toxische Eltern, Selbstverletzung]
"Gott, du bist so anstrengend! Kannst du uns nicht mal in Ruhe lassen?" Meine Mutter schrie mich oft an, ich war es gewohnt. Trotzdem spürte ich jedes Mal aufs neue den Schmerz in der Brust wenn sie es tat. "Du denkst, alles dreht sich um dich oder? Du bist so nervtötend, ich weiß gar nicht warum ich dich bekommen habe." Meinte sie spöttisch. Mein Blick richtete sich betroffen zu Boden. Ich kämpfte mit den Tränen, als ich das Öffnen der Haustür hörte. "Michiko, was ist hier schon wieder los? Kann man nicht mal nachhause kommen, ohne dass jemand rumschreit?" Ich spürte den Blick meines Vaters auf mir. "Was flennt der jetzt schon wieder?!"

"Rate mal, dein verzogener Sohn will eine neue Jacke."
"Du undankbars Kind, glaubst du wir baden in Geld? Du hast schon eine Jacke!" Ich hob den Kopf und sah meinen Vater an. Ich wusste, dass ich ihm in die Augen sehen musste wenn er mit mir sprach. "Die Jacke ist weg. Ein Junge in der Schule-"
"Wie bitte? Du lässt dich von deinen Mitschülern beklauen? Du bist so ein Feigling! Nicht mal wehren kannst du dich. Denkst du die Jacke war billig? Du bist eine Enttäuschung! Verschwinde und das Abendessen kannst du vergessen. Ich wünschte, ich hätte keinen Sohn!"

Ich konnte die Tränen nicht mehr zurück halten und rannte mit gesengtem Kopf nach oben. "Jetzt heult der auch noch". Hörte ich meinen Vater sagen. Momente wie diese waren nicht selten, beleidigt und angeschrien zu werden gehörte quasi zu meinem Alltag. Weinend rannte ich in das Badezimmer und schloss mich dort ein. Ich lies mich gegen die Tür sinken und vergrub meinen Kopf in den Händen. Ich war eine Enttäuschung. Ich war schwach. Ich war alles, was meine Eltern sagten. Zumindest glaubte ich das in diesem jungen Alter. Ich hielt das alles nicht mehr aus, der Schmerz in meinem Inneren war zu groß.

So griff ich nach einer Rasierklinge meines Vaters, die am Waschbecken lag und sah sie mir kurz an, ehe ich sie an meinen Becken ansetze und begann, in meine Haut zu schneiden. Als ich es tat, durchfuhr mich ein schrecklichen Schmerz. Ich war erst zögerlich, da mein Körper mich davon abhalten wollte. Doch nach ein paar Versuchen begann ich, den Druck zu verstärken. Blut quoll aus der Wunde, das sofort von meiner Hose aufgesogen wurde. Es tat weh aber ich machte weiter. Ich war der Meinung, die Schmerzen verdient zu haben, dass ich mich dafür bestrafen musste wie ich war.

Immer wieder zog ich die Klinge über die gleiche Stelle, was die Wunde vertiefte. Irgendwann fing ich an, den physischen Schmerz zu genießen und der Schmerz in meinem Inneren ließ nach. Ich konnte ihn ersetzen. Diesen Vorgang wiederholte ich, wenn es mir zu viel wurde. Er wurde zu einer ungesunden Gewohnheit.

~Falshback Ende~

Das war das Alter, als ich anfing, mir weh zu tun. Je länger ich das Bild ansah, desto trauriger wurde ich. Ein Räuspern riss mich aus meinen Erinnerungen. Ich drehte den Kopf zu Minho, nur um zu merken, dass er mich mit zusammen gezogen Augenbrauen musterte. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie vertieft ich das Bild angesehen hatte. "Ich gehe dann wieder." Meinte er nur und lief zur Tür. Kurz blieb er stehen, die Hand schon auf der Türklinke. Er ließ seinen Blick über mich wandern, was mir eine Gänsehaut verpasste. Dann verließ er das Haus und ich war allein. Ich seufzte und warf einen Blick auf die Uhr. Meine Eltern würden bald zurück sein, also griff ich nach den Blättern, die Minho auf den Küchentisch gelegt hatte und ging nach oben in mein Zimmer.

Scars (Stray Kids ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt