Kapitel 26

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Einen Tag vor dem Ball saß ich wie auf heißen Kohlen. Morgen würde Sarah mich mit ihrem Auto abholen - vor den Augen meiner Mum. Bisher hatte sie mich noch nicht gefragt, mit wem ich hingehen würde, aber das war nur eine Frage der Zeit.

In den letzten zwei Wochen hatte ich zahlreiche Gelegenheiten gehabt, mich bei meiner Mutter zu outen. Zahlreiche Momente, in denen ich so kurz davor stand, einfach damit rauszuplatzen. Aber jedes Mal war ich zu feige gewesen.

Ich betrachtete mich gerade im Spiegel - ich hatte das dunkelgrüne Abendkleid an, das ich am Montag mit Maya ausgesucht hatte - als mein Handy klingelte.

"Hey, rate, was ich gerade anhabe!", begrüßte ich Sarah grinsend, obwohl sie das natürlich nicht sehen konnte.

"Hm", machte sie gespielt nachdenklich. "Lass mich raten: es ist ein grünes Kleid, das hervorragend zu meinem Outfit passt"

"Man, ich bin echt zu leicht zu durchschauen", sagte ich lachend und setzte mich aufs Bett.

"Was gibt's denn?", wollte ich den Grund für ihren Anruf wissen.

"Ich wollte eigentlich nur wissen, wann ich dich morgen abholen soll."

"Ach so, so gegen sieben?", fragte ich und hörte, dass meine Mutter von unten meinen Namen rief.

"Warte mal kurz", sagte ich ins Handy und ging in den Flur.

"Ja?", rief ich zurück und wartete kurz. Keine Antwort. Vermutlich wartete sie darauf, dass ich nach unten kam, damit wir uns nicht quer durch's Haus anschreien mussten. Also lief ich schnell die Treppe hinab und fand sie in der Küche.

"Oh, schick siehst du aus!", kommentierte sie strahlend mein Kleid.

Ich drehte mich einmal, sodass der Rock schön mitschwang und fragte sie dann, was sie wollte.

"Ich wollte nur Bescheid geben, dass es in zehn Minuten Essen gibt", erklärte sie und nahm Teller aus dem Schrank.

"Oh, dann ziehe ich mich schnell um", meinte ich und verließ die Küche in Richtung Treppe.

"Sarah?", sagte ich und hielt mir mein Telefon an's Ohr.

"Jap, ich hab's gehört", sagte sie bereits, bevor ich das Gesagte wiederholen konnte.

"Wir sehen uns dann ja morgen", meinte ich und wir verabschiedeten uns, damit ich Abendessen konnte.

+++

Samstag schlief ich erstmal aus und begleitete meine Mutter dann zum Einkaufen. Nachdem wir die Taschen, gefüllt mit unserem Wocheneinkauf, im Auto verstaut hatten, holten wir uns noch einen Kaffee to go und fuhren zurück durch die recht belebten Straßen.

"Sag mal, mit wem hast du da gestern eigentlich telefoniert?", fragte meine Mutter plötzlich und ich hätte schwören können, dass ich rot wurde.

"Ähm, mit Sarah", antwortete ich knapp und versuchte, so normal wie möglich zu klingen.

"Ach so, schade", ich sah im Augenwinkel, dass meine Mutter schmunzelte. "Ich dachte schon, ich müsste mir Gedanken machen, dass du so oft in deinem Zimmer bist du telefonierst", sie lachte, "ich dachte, du hättest vielleicht einen jungen Mann kennengelernt", fügte sie hinzu und zwinkerte mich an. Sie zwinkerte? Oh boy.

Ich realisierte, dass genau dies ein perfekter Gesprächsaufhänger war, um das Thema Richtung Coming Out zu lenken. In mir stieg mörderische Hitze auf und ich wusste: es ist soweit.

"Naja...", begann ich und grub meine Fingernägel in meine Handflächen.

"Vielleicht solltest du dir trotzdem Gedanken machen", brachte ich heraus und starrte stur geradeaus aus der Frontscheibe.

"Wie meinst du das?", fragte meine Mutter und schaute kurz verwirrt zu mir, bevor sie ihren Blick wieder auf die Straße richtete.

"Ich... vielleicht... möchte ich, dass Sarah mehr, als nur eine Freundin ist", erklärte ich und traute mich endlich wieder, sie anzuschauen.

In ihrem Kopf schien es kurz zu arbeiten und dann fiel der Groschen.

"Ach so! Ach was, wirklich?", fragte sie und ich konnte ihre Mimik nicht so richtig deuten. War sie positiv oder negativ überrascht? Überfordert? Glücklich? Sauer?

"Das wusste ich ja gar nicht", meinte sie dann. "Also, dass du... ich weiß nicht... bisexuell bist?"

"Nein, das wusste keiner", sagte ich leise, aber laut genug, dass sie es hörte. Dass ich mich eigentlich nur zu Frauen hingezogen fühlte, ließ ich unausgesprochen.

Wir fuhren auf unsere Einfahrt und meine Mutter schaltete den Motor aus. Sie schnallte sich ab und drehte sich mir zu, um meine Hände in ihre zu nehmen.

"Mein Schatz, wenn sie dich glücklich macht, bin ich auch glücklich. Das ist alles, was zählt!", sagte sie mir und jetzt konnte ich erkennen, was ich vorher nicht sehen konnte: ihre Mimik war einfach ein Ausdruck von Liebe.

"Geht sie mit zum Winterball?", fragte Mum mich dann.

"Ja, sie holt mich um sieben ab."

"Denk an das Foto!", erinnerte Mum mich und ich seufzte.

"Muss das sein?", jammerte ich und sie lachte. Natürlich musste es das! Und in zehn Jahren würde ich mich vermutlich gerne daran zurück erinnern.

+++

Um Punkt sieben klingelte es an der Tür. Ich puderte mit noch einmal die Nase und rannte praktisch die Stufen hinunter. Leider kam ich zu spät, denn meine Mutter hatte die Tür schon geöffnet und Sarah herzlich begrüßt.

Als sie sich die Hand gaben, konnte ich an ihrer gesamten Körperhaltung sehen, wie nervös Sarah war. Das war ein seltener Anblick und ich konnte nicht behaupten, dass ich es nicht genoss.

Sie warf mir über die Schulter meiner Mutter einen Blick zu und ich grinste wissend an. Sie deutete ein Augenrollen an, was soviel heißen sollte, wie bilde dir ja nichts drauf ein.

"Hayley, da bist du ja", sagte Mum und drehte sich zu mir um. Während sie die Kamera aus dem Wohnzimmer holte, kam Sarah blitzschnell auf mich zu und küsste mich kurz.

"Du siehst wunderschön aus", flüsterte sie und ich drückte ich Hände.

"Du auch" sagte ich in dem Moment, als meine Mutter wiederkam, die Kamera bereits auf uns gerichtet.

"So, dann stellt euch doch mal... ja... Nein, ein bisschen weiter nach... genau! Perfekt!", gab sie uns Anweisungen und wir befolgten schuldigst jede von ihr geforderte Pose.

"Sorry dafür", sagte ich, als wir schließlich das Haus verließen.

"Wieso, das war doch lustig", widersprach Sarah mir. "Ich mag deine Mum", fügte sie hinzu.

"Und sie dich" sagte ich und küsste sie auf die Wange.

"Ich bin froh, dass sie so toll reagiert hat", meinte Sarah und ich konnte ihr nur zustimmen. Ich dachte an die Reaktion ihrer Eltern damals und fühlte wieder diese Woge der Trauer.

Während wir zur Schule fuhren, lag meine Hand die ganze Zeit auf Sarahs und das beruhigte meinen Puls. Ich war ganz schön nervös, schließlich stand mir quasi das Coming Out vor der gesamten Schule bevor.

Wir kamen viel zu schnell an und Sarah half mir, in meinen hohen Schuhen aus dem Auto zu steigen.

"Ich bin größer als du", sagte ich und grinste sie an.

"Genieß es, solange es so ist", meinte sie und ich nahm lachend ihre Hand.

"Bereit?", fragte sie und ich nickte. Ich war noch nie bereiter gewesen.

Sarah & HayleyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt