3 (Emma)

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Was ich sah, war an sich nicht außergewöhnlich. Einige der alten Meister haben Gemälde übermalt, Skizzen verbessert oder Material wiederverwendet.

„Und", Jonas erschien plötzlich hinter uns und sah mit einer ungewöhnlichen Neugierde über meine Schulter. „Sieht so aus, als hätte unser Unbekannter sich beim Malen umentschieden", erklärte ich, als ich ihn die Figur zeigte. Es kristallisierte sich mehr und mehr, dass es sich dabei um eine Frau in einer Toga handelte, die die Hände zum Himmel gestreckt hatte. „Da muss mehr sein", murrte er ungeduldig und bewegte sich dabei hibbelig neben mir hin und her, dann sah er zu Olivia, „Kannst du die Frau identifizieren?" „Bitte was" „Weißt du, wer das sein soll? Eine Historische Figur?", erkundigte er sich mit Nachdruck noch mal. Ich sprang ein: „Leider ist die Infrarotreflektographie nicht sehr effektiv" „Wieso, hast du plötzlich vergessen, wie es geht", schnaubte er sichtlich angespannter. Ich wusste das Jonas einen schlechten Tag hatte, doch langsam wurde ich gereizt. Was hatte er all die Jahre gemacht, wenn ich Bilder untersucht hatte? Nun ja, es hatte ihn wohl nie sehr interessiert und er hatte nur seinen Job getan, beaufsichtigt. „Deine Frustration ist verständlich, aber lass mich erklären, warum das passiert. Die Infrarotreflektographie hat ihre Grenzen.", ich sah ihn an und versuchte ein letztes Mal meine aufkommende Wut zu unterdrücken. "Aber warum? Sollte sie nicht alles zeigen, was sich darunter verbirgt?", polterte er sofort wieder los und starrte mich aus wilden Augen an. „Jonas", sprach ich endlich ein Machtwort, „Ich weiß nicht, was dein Problem ist, aber wir tun, was wir können. Lass uns unsere Arbeit tun. In Ruhe", dann fügte ich ein wenig versöhnlicher hinzu," Infrarotreflektographie funktioniert am besten mit Kohlenstoff-basierten Pigmenten, wie Kohle oder Graphit. Diese absorbieren das Infrarotlicht und sind deutlich zu erkennen. Aber bei Pigmenten, die Infrarotlicht reflektieren oder durchlassen, wie beispielsweise Bleiweiß oder Zinnober, sind die Ergebnisse nicht so klar."

"Also könnte das darunterliegende Bild mit solchen Pigmenten gemalt sein?" Ich musterte ihn und sah, dass er sich wohl ein wenig beruhigt hatte, also fuhr ich in meiner Erklärung fort: "Genau. Und es gibt weitere Faktoren, wie die Dicke der Farbschichten, die den Infrarotstrahlen den Durchgang verwehren können. Auch der Zustand des Gemäldes und die Qualität unserer Ausrüstung spielen eine Rolle."

Jonas stöhnte frustriert und ich fragte mich ein weiteres Mal, wie wenig er wohl in den letzten Jahren geistig anwesend gewesen war. Doch ich sparte mir die abschätzigen Kommentare, die durch meinen Kopf schwirrten. Er schien zu überlegen und dann grinste er mich breit an: "Können wir dann nicht einfach die obere Schicht entfernen, um das darunterliegende Bild zu sehen?"

"Theoretisch ja, aber praktisch ist das eine heikle Angelegenheit. Das Entfernen von Farbschichten kann irreparable Schäden verursachen. Wir müssen auch die mögliche Toxizität der Pigmente, wie Bleiweiß und Zinnober, bedenken. Es ist ein riskanter Eingriff, der das ganze Kunstwerk zerstören könnte.", gab ich zu bedenken, „Farbschichten, besonders die alten, sind empfindlich. Wenn wir sie entfernen, könnten wir die darunterliegende Schicht beschädigen. Außerdem sind die chemischen Verfahren, die wir anwenden müssten, nicht rückgängig zu machen. Wenn einmal etwas entfernt ist, können wir es nicht wiederherstellen." Jonas sah mich grimmig an und gab nur ein „Aber ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen. Wir haben die Technologie, wir haben das Wissen. Wir sollten es zumindest versuchen. Und das ist mein Bild" von sich.

Olivia, die die ganze Zeit über sehr ruhig neben mir gestanden war, sah ziemlich verwundert zu mir. „Arbeitet ihr hier immer so?" „Nein", ich lachte, während mein Herz schwer in meiner Brust lag, „Normalerweise steht das Kunstwerk und dessen Integrität im Vordergrund"

In den folgenden Stunden arbeiteten wir behutsam am Gemälde. Unter dem Mikroskop trugen wir vorsichtig Lösungsmittel auf, um die oberste Farbschicht aufzulösen, dann entfernten wir mikroskopisch kleine Farbpartikel und beobachten ständig die Reaktion des darunterliegenden Materials. Ich war sehr angespannt und mein ganzer Körper hatte sich verspannt. Jedoch schien Olivias ruhige Anwesenheit auch eine Wirkung auf mich zu haben. Wann immer ich kurze Pausen machte und hochsah, lächelte sie mich an und nickte mir freundlich zu. Nach stundenlanger mühevoller Arbeit begann sich das verborgene Bild zu offenbaren. Stück für Stück erkannten wir mehr und mehr Figuren, die sich abzeichneten und schließlich war ein komplett anderes Gemälde zu sehen. „Es ist schon spät Jonas", sagte ich schließlich, „Das Einordnen müssen wir, wann anders vornehmen wenn Olivia auch zeit hat" „Morgen ist Samstag", überlegte diese laut, „ich kann da gerne noch mal kommen"

„Nun gut", stimmte auch Jonas zu, wobei seine müden Augen nur all zu deutlich zeigten, wie müde er selbst war, „Ich räume auf" Ich wusste, dass hinter diesem großzügigen Angebot, das er sonst nie machte, nur stecken konnte, dass er das Gemälde verstecken wollte. Was für ein komischer Kauz. „Wir kommen morgen Nachmittag", verkündigte ich, dann griff ich, mehr aus Reflex nach Olivias Hand und zog sie in den Nebenraum, in dem unsere Jacken waren. Ihre Haut war weich und warm und für einen Moment tauchte der Gedanke in meinem Kopf auf, dass es sich gut anfühlte.

„Musst du weit heim?", erkundigte ich mich bei ihr und musterte ihr Profil, als siesich anzog. „Das wird schon", murmelte sie und gähnte. „Ich wohne tatsächlich nur wenige Straßen entfernt. Du kannst gerne bei mir auf dem Sofa schlafen",schlug ich vor ohne weiter darüber nachzudenken, ob es angemessen war oder nicht. Schließlich kannte ich sie kaum. Doch auf der anderen Seite konnte es auch sein, dass die Öffis schon nicht mehr fuhren.

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