10 (Emma)

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Ich musterte ihn, sah in sein altes Gesicht und versuchte etwas darin zu lesen. Ich wusste nicht wonach ich suchte, nicht was ich erwartete. Ich kannte ihn seit dem ersten Tag an der Uni, seit den ersten unkoordinierten Stunden und den Chaos der ersten Vorlesungen. Eine Jobbeschreibung könnte ich dennoch nicht liefern. Er rannte überall umher, vergewisserte sich, dass die Dinge liefen, und zog dabei finstere Mienen. Ich hatte es akzeptiert und irgendwann mich sogar mit dem Griesgram in ihm angefreundet. Außerdem musste ich zugeben, dass er ein guter Assistent war, wenn es darum ging mit wertvollen Gemälden zu hantieren und diese zu restaurieren. Doch hier, in einer anderen Zeit schien er plötzlich seltsam gelöst, jünger und agiler. „Mädles kommt", meldete er sich wieder zu Wort und wurde von Olivia mit einem strafenden Blick bedacht: „Wir sind beide über 25" Dann zischte sie, so gut es in dem langen Kleid ging, an ihm vorbei ins Haus, drehte sich noch mal um und nickte mir aufmunternd zu.

Der Künstler saß auf einem Schemel, seine langen eleganten Finger spielten mit einer Farbtube und sein Blick war steif aus dem Fenster gerichtet. Wir standen unbeholfen vor ihm und sagten kein Wort, bis er seinen anklagenden Blick auf uns richtete. Sein wertvolles Gemälde, das uns auf magische Weise in diese fremde Zeit versetzt hatte, lag wieder in Takt auf den Tisch und ich erwischte mich dabei, wie eine leise Stimme in mir daran zweifelte, wie sehr das Gemälde wirklich beschädigt war.

Jonas, der zuvor mit dem Künstler vertraulich gesprochen hatte, trat vor und versuchte erneut zu beschwichtigen. Er hob seine Hand in einer respektvollen Geste und begann behutsam: "Euer Talent als Künstler ist zweifellos außergewöhnlich, verehrter Meister. Wir bedauern von Herzen, dass unser Unwissen und unsere ungeschickte Berührung zu dieser unglücklichen Situation geführt haben."

Der Künstler, ein Mann offensichtlich mit viel Stolz und künstlerischer Empfindsamkeit, sah Jonas skeptisch an. Seine Augen funkelten vor Verärgerung, als er fragte: "Was genau geht hier vor sich?"

Jonas atmete tief durch und entschied sich dafür, die unglaubliche Wahrheit zu offenbaren, ungeachtet der möglichen Skepsis des Künstlers. "Euer Gnaden, wir sind keine gewöhnlichen Reisenden. Wir stammen aus einer anderen Zeit und sind auf mysteriöse Weise durch die Berührung Eures außergewöhnlichen Gemäldes in diese Epoche versetzt worden. Wir wissen, wie fantastisch das klingt. Der Künstler starrte Jonas an, seine Stirn in Falten gelegt. "Zeitreisende? Immer noch diese Geschichte. Ich dachte, ihr kämet mit was Neuem, vielleicht der Wahrheit, nachdem ich euch fort geschickt habe" murmelte er, als ob er den Gedanken erst verdauen müsste, "Das ist absurd!"

Doch Jonas war entschlossen, den Künstler von der Wahrheit zu überzeugen, und bat darum, das Gemälde noch einmal berühren zu dürfen. Der Künstler, von Neugierde und Misstrauen gleichermaßen geplagt, willigte schließlich zögerlich ein. Jonas näherte sich dem Gemälde und legte behutsam seine Hand auf die Stelle, die uns in diese Zeit katapultiert hatte. Ich hielt den Atem an, während sein Finger sich der Leinwand immer weiter näherte, mein Herz schlug schneller und ich versuchte nicht zu blinzeln, um den Moment ja nicht zu verpassen. Es passierte...nichts. Er stand immer noch an Ort und Stelle in diesem Atelier im 18ten Jahrhundert.

Der Künstler, wütend ob unserer vermeintlichen Täuschung, rief empört aus: "Ihr verspottet mich! Ihr habt mein Kunstwerk beschädigt und erzählt mir diese absurde Geschichte von Zeitreisen!"

In diesem Moment durchzuckte mich eine Erkenntnis. Vielleicht lag die Lösung darin, dass ich selbst einen Versuch unternahm. Ich trat vor das Gemälde und wagte es, den Künstler trotz seinem Zorn um einen letzten Versuch zu bitten. Ich merkte, wie ich leicht zitterte, Nervosität stieg in mir auf, während ich die Worte formte. "Verehrter Meister, ich flehe Euch an, gewährt mir eine letzte Gelegenheit", bat ich in einem demütigen Ton. "Ich werde versuchen, das Gemälde zu berühren, bitte."

Der Künstler erhob sich von seinem Sitz und kam auf mich zu, seine Augen fixierten mich und schienen durch mich hindurchzustarren, immer noch voller Zweifel und Herablassung, willigte er schließlich widerwillig ein. Ich trat vor das Gemälde und bat Jonas und Olivia, sich genauso zu positionieren, wie sie es am Vortag getan hatten. Dann legte ich meine Hand auf die gleiche Stelle auf dem Gemälde und schloss die Augen, mit einem Hauch von Hoffnung im Herzen.

Und in diesem entscheidenden Moment geschah das Unfassbare. Wir wurden von einer unsichtbaren Kraft erfasst und in einen Strudel aus Licht und Energie gezogen. Als wir die Augen öffneten, befanden wir uns plötzlich wieder in unserer eigenen Zeit, sicher und unversehrt, aber mit der unvergesslichen Erinnerung an unsere unglaubliche Reise ins 18. Jahrhundert.

„WTF", stieß Olivia aus und drehte sich mehr Mals im Kreis, um den ganzen Raum zu sehen.

„Warum?", fauchte Jonas. „Es ist doch alles gut", antwortete ich ihm und lächelte glücklich. „Nichts ist gut", murmelte er und sah mich forschend an. „Kommst du morgen wieder?", erkundigte er sich dann ruhiger. „Dienstag. Ich habe mir ein Wochenende verdient. Ich hoffe du zahlst die Überstunden", sagte ich, und sah mich nach meiner Tasche um. Es war Sonntag und fast 13 Uhr, ich könnte also noch rechtzeitig heimkommen, um Tina zu sehen. „Ich muss wirklich los", sagte ich gehetzt und bewegte mich auf die Tür zu.

„Warte", Olivia packte meinen Arm, „Darf ich deine Nummer bitte haben"

Wenig später war ich zuhause, entkleidete mich und zog passende Klamotten an. Mein Kopf schwirrte noch immer und vielleicht hätte ich in der Uni bleiben sollen und herausfinden sollen, was passiert war, wie wir durch die Zeit hatten reisen können, doch ich brauchte Abstand. Ich musste mich erst sammeln, bevor ich mich überhaupt mit dem undenkbaren auseinandersetzen konnte.

Punkt 14 Uhr klingelte es an der Tür und eine strahlende Tina streckte mir einen Blumenstrauß entgegen. „Hola", sie grinste mich an und schob sich an mir vorbei in die Wohnung. „Na du", entgegnete ich und entschloss mich bereits in diesem Moment nichts von meinem Erlebnis zu erzählen.

Montagabend rief Olivia mich an und eine Stunde später saßen wir gemeinsam auf meinem Sofa und tranken Tee. „Ich kann es immer noch nicht glauben", flüsterte sie, als hätte sie Angst, dass uns jemand hören könnte. „Ja, wie...?" Sie schüttelte den Kopf: „Keine Ahnung, aber ich habe das Gefühl, dass das nicht alles ist" Ich sah sie verwirrt an. „Naja, das Abbild des heiligen Vlieses, das verschwunden ist, scheint ein Kopf zu sein, mit dem man in eine andere Zeit kommt. Aber warum? Warum das 18te Jahrhundert? Und hat das irgendwas mit dem Vlies zu tun?", begann sie laut zu denken.

Ich musste zugeben, ich hatte keine Idee. „Wir haben zwei Möglichkeiten", gab ich schließlich von mir, „Entweder wir lassen es auf sich beruhen oder wir gehen beide am Dienstag zu Jonas und finden mehr heraus"

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