28(Emma)

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Ich schwieg. Ich war wütend, ängstlich und enttäuscht. Jetzt im Nachhinein musste ich zugeben, dass ich Erik für einige Momente sympathisch fand, oder zumindest erträglich. Aber mit ihm in einer Kutsche zu sitzen, die ein weiteres Mal durch die anbrechende Dämmerung fuhr, rief Beklemmnis in mir hervor. Er saß mir gegenüber, ein Mensch, mehr oder weniger meiner Zeit, der sich dazu entschlossen hatte, hier in der Vergangenheit noch mal anzufangen. Ich fragte mich, ob er schon einmal jemand getötet hatte, wenn es ihm so leichtgefallen war, das bei Jonas zu tun. „Zurück zu dem Plan", Erik lehnte sich mir verschwörerisch entgegen, „Du musst in deine Zeit und dann uns den Code geben auf dem Bild. Ich habe Erik auch das gesagt. Aber er wollte nicht" Ich lächelte. Ich würde nicht zurückkommen, wenn ich einmal sprang, da war ich mir sicher. Mittlerweile war ich mir klar darüber, was ich wollte: nie wieder den Grafen und Erik sehen. „Am besten springe ich gleich heut", schlug ich vor. „Aber du musst ein Pfand dalassen", Erik sah mich bedeutend an, „Ich will ja, dass du wieder kommst" „Ich habe nichts", ich lächelte ihn leicht an. „Ich behalte deinen Rucksack"

Mein Rucksack. An sich wäre es kein Problem, doch in meinem Rucksack gab es eine Sache, die ich so automatisch mitnahm, dass ich es schon gar nicht mehr registrierte. Es war ein Glücksbringer, ein letzter Gegenstand aus meinem letzten Leben, wie ich es nannte. Wenn man etwas gewaltiges verliert, verändert man sich. Man wird ein anderer Mensch und beginnt vielleicht ein neues Leben. Ich war 17 gewesen, als ich ein anderer Mensch geworden wurde. Es war ein warmer Tag gewesen, Herbst und noch lau genug, dass ich ohne Jacke spazieren war. Wind war mir durchs Haar gefahren und ich habe mich vom Leben und der Sonne geküsst gefühlt und dann kam der Anruf. Ich hatte angenommen und es war gewesen, als hätte mir jemand in den Bauch geschlagen gehabt.  Laut statistischen Bundesamt starben in dem Jahr von Linas Tod 612 Fußgänger bei Verkehrsunfällen, die Zahlen nehmen seitdem weiter ab. Aber eigentlich ist es egal wie viele andere Menschen umgekommen sind. Fakt ist, sie hatte ein Auto nicht gesehen und das Auto sie nicht. Dann war es passiert.  Und manchmal, jetzt, Jahre später, vergaß ich, dass sie tot war. Ich würde dann an sie denken und in meinem Kopf würde sich ein Gedanke wie „Das erzähle ich Lina.." formen und dann würde mir einfallen, dass sie tot war. Alles, was mir von ihr geblieben war, war ein Glücksbringer, den sie mir im Sommer, bevor sie gestorben war, gegeben hatte. Ein kleiner Stein, rund wie eine Murmel aus Tigerauge, einem Edelstein, der im Sonnenlicht wunderschön glänzte und braune Streifen hatte, wie ein Tiger. Nach ihrem Tod hatte ich mein Zimmer nicht mehr verlassen gehabt. Das war so weit gegangen, dass meine Mutter mich schließlich zu einer Therapeutin gebracht hatte. Sie hatte mir sehr geholfen und dennoch, war mir seit dem bis heute schwergefallen Nähe, wie ich sie mit Lina gehabt hatte, zuzulassen. Autos gab es überall, woher wusste ich, dass nicht meine nächste beste Freundin auch plötzlich tot und mein Herz gebrochen sein würde. 

Wir kamen bei Erik zuhause an und ich dachte fieberhaft darüber nach wie ich meine Glücksbringer retten konnte. Doch er ließ mich nicht an meinen Rucksack, sondern händigte mir meinen Schlüssel und Geldbeutel aus. Leise lachte er, als er in mein Gesicht sah: „Du siehst so aus wie ich damals, wenn die Polizei kurz davor war meine Pillen zu finden. Was hast du in deinen Rucksack" Doch ich schwieg eisern und sah ihn nur fest in die Augen. „Schon gut, aber deinem Verhalten nach zu urteilen werde ich dich wieder sehen" 

Eine Weile später trat ich vor das Gemälde und sah ein letztes Mal zu Erik. „Vergiss nicht", er durchbohrte mich mit seinen Blicken, „Der Code muss auf dem Gemälde sein. Bring ihn mit" Dann berührte ich das Gemälde.

Ich öffnete die Augen und fand mich plötzlich in einem fremden Zimmer wieder. Ein erster Blick verriet mir, dass ich nicht erwartete gewohnten Umgebung war, ich war nicht in dem kleinen Raum in der Uni gelandet. Hatte die Polizei etwa das Bild gefunden und beschlagnahmt. Nein, das konnte es auch nicht sein. Der Raum, in dem ich mich befand, war ein Schlafzimmer, das mir unbekannt vorkam, aber dennoch eine seltsam vertraute Atmosphäre ausstrahlte.

Die Wände waren in einem beruhigenden Grauton gestrichen, während ein großes Fenster an der gegenüberliegenden Seite des Raumes sanftes Laternenlicht hereinließ. Die Vorhänge waren halb geöffnet, und der Lichtkegel der Straßenlampe brach sich in warmen Strahlen auf dem Holzboden. Ein großer, antiker Schreibtisch stand an der rechten Seite des Raumes, übersät mit Büchern und Schreibutensilien. Sie waren alle samt sortiert und organisiert, in einer Weise, die ich selbst nie hätte, aufrecht halten können. Die Bücherregale an den Wänden waren randvoll mit historischen Werken, von antiken Zivilisationen bis hin zu modernen Ereignissen. Ein breites Bett dominierte die Mitte des Raumes, seine Bettwäsche in einem schlichten Weiß gehalten. Ein paar verstreute Kissen lagen darauf, als ob sie darauf warteten, wieder in Gebrauch genommen zu werden. Ein Spiegel an der Wand reflektierte mein Bild zurück, und ich bemerkte die Erschöpfung in meinen Augen.  

Immer duWo Geschichten leben. Entdecke jetzt