Kapitel 24: Der Todeskandidat

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Das Tor ging auf, Licht schien von draußen herein, ein Mann wurde in Ketten hereingeführt, bewacht von 4 Soldaten. Er trug Sträflingskleidung und eine graue Stoffhaube über dem Kopf, sodass nur seine Augen und sein Mund heraus schauten. Seine schütteren, grauen Haare hingen hinten ein Stück heraus. Seine Haut war erschreckend weiß, bleich und faltig. Er war sehr dünn, aber groß von Statur. Er überragte alle 4 stämmigen Marineschergen um mindestens einen halben Kopf. Langsam ging er die Treppe zum Verließ herunter, um in die freie Zelle gebracht zu werden. Er schritt an den Stäben der übrigen Gefangenen vorbei, durch den gesamten Trakt. "Dieser Bastard", murmelte einer. "Dieses widerwärtige Schwein", säuselte ein Pirat. "Musst du gerade sagen, du abartiger Wichser!", fauchte sein Kumpel. Beide kicherten. "Was ist mit euch?", sagte Robert laut. "Weißte nicht, wer das ist?", fragte Peppo. "Muss wichtig sein, wenn ihr alle mal für mehr als 30 Sekunden die Fresse haltet, wenn die Tür oben aufgeht", rief Robert. Verhaltenes Lachen. Der Neuankömmling sah zu Robert. Seine großen Augen waren nun ganz geöffnet und er musterte ihn. Peppo zog Robert ein Stück von den Stäben weg. "Ey, Junge, ich meins ernst, das ist der Kindermörder..." Sogar ihm hatte es wohl die Sprache verschlagen.

Robert sprang auf die Stäbe zu. Die Schergen drückten den Neuankömmling weiter. Er schaute Robert an. "Du, wer bist du?", fragte Robert. Der andere sagte nichts. Der Rote lief an den Stäben entlang, auf Höhe des Neuen. "Hey, warst du es?" "Halt die Fresse, Kleiner, zurück von den Stäben", schnauzte einer der Soldaten. Robert ignorierte ihn. Die hintere Zelle wurde geöffnet. Der Gefangene wurde hineingeführt. Dieses Mal kamen, wie bei keinem anderen, die Fesselvorrichtungen zum Einsatz. Ohnehin war der Mann mit Bein und Armfesseln aus Metallketten fixiert.  Diese wurden nun an Haken im Boden und in der Wand festgekettet. Sodass sich der Neuankömmling nicht von der Stelle bewegen konnte. Er könnte sich hinlegen, stehen oder sitzen. Aber nicht mal bis zu den Stäben laufen. "Lass den hier in Ruhe, Junge", sagte eine Wache, dieses Mal in netterem Ton. "Das ist der Irre, den sie für die Morde im Whiteout verurteilt haben. Draußen wärst du ein neues Opfer für ihn. Er ist zwar gefesselt, aber halt dich trotzdem von den Stäben fern." Die vier verließen den Trakt. "Das gilt für euch anderen auch, zu eurem eigenen Schutz!", ergänzte der Wachmann. Die Tür nach Oben wurde wieder geschlossen.

Robert stand mit dem Gesicht in die Stäbe zwischen ihm und dem Gefesselten gequetscht und starrte ihn an. Dieser saß nun auf dem Boden und schaute zwischen seine Beine auf den Boden. "Eine der Leichen hab ich gefunden", sagte Robert. "Hey", sagte Carson, "lass doch, Shanks." Er griff ihm an die Schulter und zog ihn leicht weg. Robert drückte seinen Arm weg. "Ich muss mit ihm Reden. Mir passiert nichts, der Kerl kann nicht mal einem Meter von da weg." Carson ging zurück und setzte sich wieder. "Das eine Mädchen war eine bekannte von mir. Sie war zwölf, soweit ich weiß, erinnerste dich an die?" Nach einigen Minuten ließ sich Robert an den Stäben herunter rutschen und setzte sich neben den anderen. Eine halbe Stunde oder mehr verging. "Die werden mich hinrichten." Robert fuhr herum. Der Gefesselte schaute ihn an. Robert erwiderte den Blick. "Die werden mich in wenigen Tagen hinrichten." "Dann hast du so lange Zeit, mir alles zu berichten", sagte der Rote. "Warum?", fragte der andere. "Weil ich wissen muss, dass es vorbei ist", ergänzte Robert. "Was soll vorbei sein?", fragte der andere. "Der Fluch", antwortete Robert. Der Neue lachte leise. "Ich wusste immer, dass es ein Mensch ist. Das ist kein Fluch. Es passiert immer das selbe. Ich weiß nur nicht warum." "Wie klug von dir", erwiderte der andere. "Also warst du es?" "Ich werde hingerichtet." "Das beantwortet die Frage nicht." Der andere schwieg. Wieder vergingen einige Minuten. "Ich bin ein Mörder." "Das hat man über mich auch schon gesagt", sagte der Rote. Der Neuankömmling schaute ihn an. "Stimmte aber nicht." Der Todeskandidat schaute wieder auf den Boden: "Ich war im Krieg. Hab dort schießen gelernt." "Die Opfer im Whiteout wurden aufgeschlitzt..." Der Todeskandidat zuckte mit den Schultern.

Der Zum-Tode-Verurteilte lag auf dem Boden. Robert wich nicht von den Gitterstäben. Er schaute ihn an. "Erzähl mir vom Krieg." "Was weißt du vom Krieg, Junge?", fragte der andere. "Nichts, deswegen erzähl es mir." Einfach liegen bleibend begann er. Es war Nacht draußen. Die meisten Gefangenen schliefen. In der anderen Ecke hörte man noch einige Insassen Karten spielen. "Ich war in der Neuen Welt. In den Kolonien." "In den Nordkolonien?", antwortete Robert, "Ich hab in der Gefängnisbibliothek von den Kolonien gelesen." "Ich wurde eingesetzt, um Aufständische zu töten", er hielt inne, "Junge, das sind keine schönen Geschichten..." "Ist mir egal." "Sie haben mich in die Außenbezirke geschickt, wo die Ureinwohner sich weigerten, ihre Gebiete abzutreten, nördlich an Germa und Grand Storm. Die Regierungen der Länder hatten angeordnet, die Verhandlungen per Waffe zu beenden." Er hielt kurz inne. "Deren Leute hatten einen Hinterhalt in den Waldgebieten. Es gab ein paar Hügel und Täler. Die kannten die Eingeborenen genau. Meine Einheit führte aber einen Hinterhalt an ihnen durch. Sie schickten ihre Politiker, Ratsmitglieder oder sowas." "Ich hab davon gelesen, die Einheimischen dort haben auch demokratische Wahlen ihrer Anführer", erklärte Robert, "hab ich jedenfalls gelesen. Stimmt es, oder sind es nur Wilde?" Jack schüttelte den Kopf. "Sie sind so viel besser als alles, was du in Olympia vorfindest..." "Wie meinst du das?" "Olympias Demokratie, die nach dem Großen Krieg eingeführt wurde, ist kaum besser als die alte Weltregierung..." Robert wunderte sich über diese Worte. "Den Ureinwohnern ist die alte sowie die neue Regierung egal. Sie bleiben für sich und versuchen nur, mit ihren Nachbarn und der Natur klar zu kommen." Er seufzte. "Unsere Regierung versucht nur, der alten Weltregierung nachzueifern. Die Dukes von Grand Storm... Die Cappos in Romanika... die Coqs in Rooster... die Eisenreiter in Germa oder die Real in Pallas... dies sind alles nur kleinere Versionen der Himmeldrachen von früher - nur dass sie nicht mit vererbtem Blut regieren, sondern mit Manipulation und Geld." Robert sah in Jack einen Kerl, der die Welt gesehen hatte, wie sie wirklich war, und von ihr enttäuscht war. Er glaubte immer weniger, hier einen Kindermörder vor sich zu haben oder einen Typen, der einen Obdachlosen am Strand absticht. "Vielleicht hast du irgendwann mal die Gelegenheit, dir die äußeren Gebiete in der Neuen Welt anzuschauen", sagte Jack. Seine Stimme klang nun sanft. Das zischende, säuselnde darin war verschwunden. "Ihre Behausungen sind kühler im Sommer und gemütlich warm im Winter. Danach will man nicht mehr in ein Steinhaus." "Warum weißt du so viel darüber?", fragte der Rote. Jack atmete wieder schwer aus. "Der Hinterhalt funktionierte, wie gesagt, aber das sorgte nur für Feindseeligkeiten auf beiden Seiten. Jeder Sieler aus Rooster, Germa oder Grand Storm dachte, die Ureinwohner würden sich an ihnen rächen. Die Ureinwohner wiederrum dachten, jeder Siedler aus Olympia wäre so dreckig und verlogen wie die Exilregierung in Royal Port." "Ist Royal Port nicht die Hauptstadt?", fragte Robert. "Der Regierungssitz im Norden der Neuen Welt. Sie befindet sich aber im Gebiet nördlich des Kolonialreiches von Grand Storm, im Gebiet von Rooster. Neu-Mühlstein ist allerdings viel größer." Robert war fasziniert, so viel von der Neuen Welt zu hören. "Royal Port hatte die Beziehungen aufs Spiel gesetzt und somit das Leid für die einfachen Menschen schwer gemacht, Misstrauen und Hass auf beiden Seiten gesät. Durch den Hinterhalt und die Gefangennahmen und teilweise Hinrichtungen der Oberhäupter, haben sie den Krieg in den Kolonialreichen entfacht." Er seufzte wieder: "ich trug meinen Teil dazu bei." "Das war dein Job...", ergänzte Robert. "Ja, ich war ein Soldat und konnte ohne Mitleid Feinde töten. Wenn jemand eine Waffe auf mich richtet, bin ich schneller. Ich treffe ihn, bevor er mich trifft. Aber diese feigen, fettärschigen Dukes, Coqs und wie sie alle heißen nutzten mich als lebende Waffe. Als verdammte Marionette, während sie in Royal Port ihr Geld zählten, das sie mit dem Leid der Ureinwohner der nördlichen Steppen verdient haben!" Robert war sehr bestürzt. Jack zeichnete ihm hier ein so anderes Bild wie die romantisierten Abenteuergeschichten oder die politisch einseitigen Geschichtsbücher von Grand Storm ihm gezeigt hatten. "Sie stationierten mich außen in einem Lager im Grenzgebiet. Ich saß in meinem Turm mit dem Gewehr. Eines Tages ging ich zu ihnen - ohne Waffe. Ich lebte bei ihnen, aß bei ihnen. Meine Familie. Die erste und einzige, die ich je fand." Seine Stimme war schluchzend und zitternd. "Ich bin ein Deserteur. Erst 15 Jahre später fanden sie mich. Nun sterbe ich hier, im verdammten Lodea." Robert hatte die Arme um seine Knie gelegt und den Kopf abgelegt.

"Warum hörst du dir das an, Kleiner?", fragte der Todeskandidat. "Weil ich sehen will, ob ich dir glauben kann." Der andere schaute ihn nur an. "Wie ist überhaupt dein Name?", fragte Robert. "Nenn mich einfach Jack." "Robert Kenway", erwiderte er. "Und Robert, was glaubst du, nun erfahren zu haben?" "Ich glaube, du warst es nicht im Whiteout. Du scheinst, ein Schütze zu sein. Du hast nie jemanden mit einem Messer getötet. Du bist ein Soldat gewesen. Du hast andere Krieger getötet, keine Kinder." Jack schüttelte den Kopf. Robert sagte: "Die brauchen einen Sündenbock, weil sie Ruhe in Whiteground und ganz Lodea einkehren lassen wollen, weil sie nicht verheimlichen können, was dort vor sich geht. Anstatt wirklich etwas zu tun, machen sie eine große Show. Sie tun weiterhin Leute, die vom Fluch sprechen, als Spinner ab und werden mit dir gleichzeitig einen peinlichen Fehler los, den sie sonst der Bevölkerung erklären müssten." "Lass es doch gut sein, Robert."

"Wenn sie kommen und dich holen, wirst du deine Fähigkeiten benutzen?", fragte Robert. "Nein, was soll das bringen? Das hier sind Seesteinketten. Es würde nur dafür sorgen, dass ich zusammenklappe." Er ergänzte: "Es ist in Ordnung, es ist vorbei." Oben ging die Tür zum Gefängnistrakt auf. "Komm mal her, Robert", rief er. Der Rote trat an das Gitter heran. Jack sprang nach vorn, streckte den Arm aus und griff Roberts Kopf durch die Stangen. Sofort wollten Mitgefangene eingreifen, aber Robert befahl ihnen zu verschwinden: "Vertraut mir!", brüllte Robert, "Geht zurück!" Die Wachen kamen bereits die Treppen herunter. "Du hattest mit allem Recht", zischte Jack. Er flüsterte Robert alle Antworten zu, die er in den letzten Sekunden in seiner Zelle in Worte fassen konnte. Die Wachen packten Jack und er wurde durch den Gang gezerrt: "Sag mir, wie ich ihn aufhalten kann!", schrie Robert. Der Todeskandidat riss sich los. Er packte Robert erneut durch die Gitterstäbe und hielt sich an ihm fest. Er flüsterte ihm so viel er konnte zu. Die Wachen kamen bereits mit Verstärkung und schlugen auf Jack ein. Robert hörte zu und nickte. Jacks Augen waren genau vor seinen: das erste Mal sah er einen Teufelskraftnutzer seine Kräfte benutze. Seine Augen glühten, als würde etwas darin anfangen, sich zu bewegen. Aber nur wenige Sekunden später verlor der Todeskandidat sein Bewusstsein und wurde herausgeschleift. Robert sank an den Stäben herunter. Die Mitgefangenen kamen herbei, um zu schauen, ob wirklich alles mit ihm in Ordnung war. Er lächelte allerdings nun. "Es ist soweit. Ich hab alles, was ich brauche. Hoffen wir, sie entlassen mich bald." "Kenway ist echt nicht ganz dicht", hörte er noch jemanden sagen.

Draußen wurde, unter dem Jubel der Massen, der angebliche Mörder aus dem Whiteout hingerichtet, ohne dass seine Maskierung entfernt wurde und ohne dass jemand seine wahre Identität erfahren würde. 


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