Kapitel 23: Legenden

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"Hofgang", rief einer der Wärter. "Komm, Xan", sagte Robert. "Hmmm", grunzte Xan Bei missmutig. Der Wärter wollte schon die Tür schließen, aber Robert bat ihn zu warten. "Der geht nie raus, Kenway", sagte Wärter Sullivan. "Heute ist ein besonderer Tag", hörte man den Krieger sagen. Sullivan erschrak. Er war hier schon länger zuständig und hatte meistens die Schicht, die den gefangenen ihren Tagesablauf vorgibt, aber das hatte er noch nicht erlebt. Robert ging an ihm vorbei, "Danke", sagte er. Er merkte, wie sehr der junge Mann zitterte. "Er tut niemandem was", sagte Robert und klopfte dem Wärter auf die Schulter. Xan Bei schob sie durch die Tür. "Ist heute echt ein besonderer Tag?", fragte Robert, als die beiden im umzäunten Innenhof im Gefängnis angekommen waren. Die Sonne leuchtete Xan Bei an und er kniff die Augen zusammen. "Nein...", sagte er, "aber irgendwie doch, ich geh nie raus." "Warum?", fragte Robert verwundert. "Du bist ein Freigeist, Shanks, du musst raus und dich austoben. Musste ich früher auch. Nun mache ich das im Geiste. Deswegen zeige ich dir die Meditation." Die beiden gingen nebeneinander her. "Im Geiste rumtoben, ja? Kann dein Geist auch das hier?", er sprintete ein Stück und schlug ein Rad. Dann flitzte er um Xan Bei herum und sprang an den Zaun. Den Zaun gepackt, machte er Klimmzüge. "Hau da vom Zaun ab", brüllte eine Wache vom Turm herunter." "Drüben sind extra Trainingsgeräte, du Idiot", rief der Wärter, der Aufsicht im Hof hatte. "Tschuldigung,", rief Robert lachend, "das war nur eine Demonstration des Geistes" und sprang herunter. Xan Bei lachte. Er hatte ihn wirklich aus der Reserve gelockt.

Robert wurde nachts aus einem unruhigen Traum wach. Er träumte manchmal davon, wie er bei Mai klopfte und sie ihn anstrahlte, wenn sie öffnete. "Du hast geträumt, alles in Ordnung?", hörte er Xan Beis Stimme. "Schläfst du nie?", fragte Robert.  "Selten", antwortete er. "Hey Xan, du nennst mich immer Shanks. Wieso eigentlich?" "Das weißt du nicht?", fragte Xan Bei verwundert. "Nein, weiß ich nicht. Aber ich kenne jemanden, der mich auch so nannte." "Ein Seefahrer?" "Ja, Kriegsmarine. Woher weißt du das?" "Na, weil das aus dem Jargon der Seefahrer kommt." "Echt?", fragte Robert verwundert. Das hatte er nicht erwartet, er hatte es immer auf eine Verwechslung Silverstins mit einem alten Kameraden geschoben. "Was bedeutet es, Xan?" "Es bedeutet für die Fischmenschen aus dem South Blue: Befreier." "Wow", sagte der Rote, "das klingt toll." "Ja, nicht wahr? Mein Volk gilt als Sklavenvolk und ein Shanks ist ein Verbündeter der Fischmenschen." "Klasse, Xan Bei. Ich kenne aber kaum Fischmenschen." Robert klang fast etwas enttäuscht. Xan bei lachte kurz leise. "Wirst du schon noch kennen lernen." Robert drehte sich um und schloss wieder die Augen. Dann öffnete er sie wieder. "Aber wie kommt ihr darauf? Warum gerade ich?" "Das weißt du wohl echt nicht...", Xan Bei war für seine Verhältnisse sehr amüsiert. "Sag schon!", motzte Robert. "Ey, du weckst noch die anderen. Ich sag's dir ja." Xan Bei wuschelte Robert mit seiner riesigen Hand über den Kopf: "Deine Haare." Robert machte große Augen. "Die roten Haare des Shanks. In der Legende der Seefahrer gab es einen Mann, der für die gekämpft hat, die sich nicht selber wehren konnten. Er war bereit, sich mit dem Teufel anzulegen, um andere zu beschützen." Robert träumte den Rest der Nacht und die Nächte darauf vom Helden mit den roten Haaren, der durch das Whiteout zieht.

Die Zeit verging und als ein Hofgang anstand, erhob sich Xan Bei. Er und Robert gingen zum Trainingsgelände. Dort standen Geräte, Gewichte und auch Boxsäcke, sowie Dummies für Schlagübungen. Man musste sich vorbildlich verhalten und durfte nicht durch aggressives Verhalten auffallen, um es nutzen zu dürfen. Robert und Xan Bei waren dafür bekannt, keine Feindseligkeit gegenüber der Wärter an den Tag zu legen. Es war gern gesehen, wenn sich Insassen mit Dingen beschäftigten, die sie auf ihre Zeit draußen vorbereiteten oder ihnen einfach die Langeweile nahmen. Um so weniger kämen sie auf dumme Gedanken, wie Ausbruchsversuche oder Übergriffe auf Personal oder andere Insassen. "Was willst du hier, Fischfresse?", sagte ein großer, muskelbepackter Häftling aus einem anderen Trakt. Xan Bei beachtete ihn nicht. "Ey Kleiner, willst du bei uns mitmachen oder mit dem Tier da?" "Wie wär's, wenn du die Fresse halten..." Xan Bei hob den Arm und wies ihn an, es zu lassen. "Wir sind nicht wegen denen hier, Shanks." "Ey, ich rede mit dir", rief der andere. Einer seiner Freunde stand neben ihm und fing ebenfalls an. Doch ihr Gezeter währte nicht lange. Zwar waren zwei Wachen bereits näher gekommen, weil sie Stress erwarteten, aber dazu sollte es nicht kommen. Xan Bei nahm eine Haltung ein, die Robert noch nie gesehen hatte. Er streckte eine Hand nach vorn, spreizte die Finger ab, die andere neben seinen Kopf. Ein Ausfallschritt. Er drehte den Fuß leicht, dann eine Bewegung so schnell, dass Robert sie kaum richtig wahrgenommen hatte. Ein Windzug fegte. Dann erneut. Xan Bei schoss herum und streckte beide Arme zu den Seiten aus. Dann zog er sie zusammen und schlug seine Faust in seine geöffnete Hand. Die zwei pöbelnden Häftlinge standen mit offenen Mündern da. "Komm Shanks, ein paar Übungen hab ich dir bereits gezeigt, versuchen wir es. Ein Trainingskampf. Er nickte den beiden Wachen zu. Der eine Wärter nickte zurück, der andere ging einge Meter weg. "Oder wollt ihr lieber zuerst?", rief Robert den beiden zu, die Xan Bei beleidigt hatten. "Du zuerst!", stammelte der größere von den beiden. Der andere schüttelte nur den Kopf. Ein weiterer ihrer Leute verschwand bereits wieder im Zellenblock. Robert stürmte auf Xan Bei los, versuchte an ihn heran zu kommen. Aussichtslos. Der Riese war nicht nur hart wie Stahl an jeglicher Körperstelle, er war auch unglaublich schnell. Robert warf sich mit einer Hechtrolle zur Seite, wechselte die Richtung und griff blitzschnell wieder an. Xan Bei drehte sich leicht weg und ließ den Roten ins Leere grätschen, ohne ihn überhaupt abwehren zu müssen. "Irgendwann treffe ich dich, wenigsten einmal", lachte Robert und atmete schwer durch.

Nach einem dieser Kämpfe, die sich nun mindestens einmal wöchentlich wiederholten, sprachen die beiden Freunde. "Ich danke dir, dass du mir die Zeit ein wenig angenehmer gemacht hast, Shanks." "Gern, du hast mich so ziemlich hier durchgebracht, Xan." "Das war wohl unser bester Kampf", sagte Xan Bei anerkennend. "Quatsch, du alter Sabbelkopf, ich hab dich nichtmal getroffen!", lachte der Rote. "Achwas, du bist viel besser geworden. Viel weniger unnötige Bewegungen. Merk dir das: Nicht umsonst deine Kräfte verbrauchen. Sei dem Gegner überlegen, indem du schlauer bist." "Hast du mir schon so oft gesagt!" "Aber diesmal solltest du es dir wirklich merken", Xan Bei grinste Robert an. "Ich weiß, ich weiß, Xan, zu viel Gehampel, zu wenig Vorraussicht im Kampf." "Da hat er's kapiert, muss er's nur noch umsetzen", sprach der Große. Er klopfte Robert auf die Schulter, legte seinen Arm um ihn und rüttelte ihn ordentlich durch. "Du bist heute noch komischer als sonst, Xan Bei", lachte Robert. Der große Kerl sagte nichts. Er schaute in den Himmel. Wahrscheinlich würde sein Geist gerade wieder Purzelbäume schlagen, dachte Robert.

Am nächsten Tag schlief Xan Bei in seiner Zelle morgens, selbst als die Gefangenen alle bereits auf waren. Hatte er noch nie getan. Als Robert am Nachmittag von seiner Bibliotheksstunde in den Trakt kam war Xan Bei nicht an seinem Platz. Das war sehr ungewöhnlich. Kam noch nie vor. "Hey Carson, wo ist Xan?" "Keine Ahnung", erwiderte dieser und zuckte die Schultern. Wenige Minuten später kam Lovry aus dem Waschraum. "Lovry", rief Robert aufgeregt. "Was ist los, Shanks?" "Weißt du wo Xan Bei ist?" Lovry lachte auf: "Wo soll der sein?" Es war eigentlich eine wirklich blöde Frage, denn er war eben immer an seinem Platz. "Ey, ey", rief Robert und trommelte an die Gitterstäbe. Jemand aus der Zelle gegenüber rief: "Hör auf zu poltern, Roter!" "Lass ihn doch!", rief ein anderer. "Ey, Peppo, Ludwig", rief Robert rüber, "habt ihr Xan Bei gesehen?" "Haben se vorhin abgeholt, Shanks", rief ein dritter Mann. Ein alter Strauchdieb aus dem Whiteground. "Abgeholt?" Robert pochte das Herz bis zum Hals, war sein Freund etwa gestorben? Er war in letzter Zeit wirklich komisch gewesen. "Ist er...?", fragte Robert leise. Wärter Sullivan kam die Treppe herunter zum Trakt. "Ey Kenway." "Sully, was ist mit Xan Bei?" Sullivan schaute Robert an. "Sag's mir, Sully!" Sullivan drehte sich um und ging Richtung Treppe zurück. "Sullivan, ist Xan Bei tot? Sully!" Sullivan drehte sich um. Er stand bereits auf der Treppe. "Entlassen, Kenway. Ist hier ein Gefängnis. Manchmal werden hier Leute entlassen. Soll vorkommen." Das Lachen der anderen Gefangenen nahm Robert nicht wahr. Er war einfach nur glücklich. Aber gleichzeitig auch traurig. 


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