26. Wütend

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Song: Numb - Linkin Park

Ich bin gerade in der Küche und wasche meine Hände, als es klingelt. Das ist bestimmt Kai. Er wollte mit ein paar Kumpels ins Kino. Ich trockne meine Hände ab und mache mich auf den Weg zur Tür. Ich öffne sie und erstarre. Mein Vater steht vor mir.

Ich will die Tür wieder schließen, da schiebt er seinen Schuh dazwischen. Gegen meinen Willen öffne ich die Tür wieder. Ich verbanne jegliche Emotion aus meinem Gesicht. Mache mich innerlich schon für den nächsten Schlag ins Gesicht bereit, metaphorisch und wortwörtlich.

„Ella. Es tut mir so leid, was letztes mal passiert ist. Ich habe die Kontrolle verloren. Es wird nie wieder passieren."

Ich hebe spöttisch mein Kinn. „Das wird es auch nicht. Du willst mich ja nicht mehr sehen oder anrufen. Und ich will dich jetzt auch nicht mehr sehen."

In meinem Hinterkopf höre ich, dass jemand die Treppe runterkommt, aber ich realisiere es nicht wirklich, so konzentriert bin ich auf den Mann vor mir, der sich meinen Vater schimpft.

„Es war ein Ausrutscher. Ein einziges mal.", sagt er in einem überlegenen Ton. Und mein letzter Faden Geduld reißt.

„Du hast mich geschlagen! Ich war grün und blau. Du hast mich nicht nur ein bisschen geschlagen. Du hast mich verdammt nochmal richtig geschlagen!", fahre ich ihn an.

Plötzlich werde ich sanft zur Seite geschoben. Im nächsten Moment liegt mein Vater - oder Erzeuger - auf dem Boden und Vince schlägt auf ihn ein.

„Vince!", rufe ich. „Was machst du da?"

Ich stürze zu den beiden und versuche, Vince von meinem Erzeuger runterzuziehen, aber keine Chance. Ich sehe, dass das Gesicht meines Erzeugers blutüberströmt ist. Vince hat ihm die Nase gebrochen.

Das hat er verdient, sagt eine Stimme in mir. Trotzdem muss ich Vince aufhalten, bevor er ihn noch mehr verletzt oder umbringt.

„Vince, das reicht.", sage ich sanft aber bestimmt. „Du musst jetzt aufhören."

Er macht weiter. Er ist in einem Tunnel. Wie kann ich ihn zur Vernunft bringen?

„Für mich. Hör auf für mich."

Vince hält endlich inne und dreht seinen Kopf in meine Richtung. Sein Gesicht ist zu einer wütenden Maske verzogen. Ich hatte noch nie Angst vor Vince, aber...

Er mustert mich lange und ich bemerke, dass mir Tränen über die Wangen laufen. Dann nickt er und steht auf.

„Sie Arschloch! Sie haben mir die Nase gebrochen!", ruft mein Erzeuger. Er rappelt sich auf und hält seine blutende Nase.

„Und ich hätte noch viel mehr angerichtet, würde deine Tochter nicht zuschauen, du Stück Dreck! Man schlägt keine Frauen. Vor allem nicht seine eigene Tochter." Vince spuckt vor meinem Erzeuger auf den Boden.

„Es geht sie gar nichts an, wie ich meine Tochter erziehe."

Ich lache humorlos. Seit elf Jahren hat dieser Mann mich nicht mehr erzogen. Was bildet er sich ein?

„Von Erziehung kann man da nicht reden.", knurrt Vince.

Ich umfasse seine Hand, um ihn zu beruhigen. Seine Finger schieben sich durch meine und er hält mich fest. Oder ich halte ihn fest. Ich weiß es nicht.

„Ich werde sie anzeigen! Sie werden von meinem Anwalt hören!", ruft mein Erzeuger.

Da kann ich nicht länger still daneben stehen. „Dann wirst du von meinem Anwalt hören. Und jeder wird erfahren, was du getan hast."

Mein Erzeuger starrt mich mit großen Augen an. Er hat mich immer nur als kleines Mädchen gesehen. Aber ich bin eine Frau. Eine verdammt wütende Frau. Und es gibt nichts gefährlicheres als eine wütende Frau.

„Und jetzt verschwinde.", sage ich, gefährlich ruhig.

Er schließt sein Auto auf und schon fährt er weg. Und ich bin mir sicher, dass ich diesen Mann in meinem Leben nie wider sehen werde. Und das erste mal bin ich erleichtert darüber.

Ich will meinen Erzeuger nie wieder sehen. Er war seit elf Jahren nicht mehr für mich da und seine Entschuldigung ändert nichts daran, was er getan hat.

Vince und ich gehen nach drinnen und ich führe ihn ins Badezimmer, um seine Fingerknöchel zum zweiten Mal diese Woche zu verarzten.

Er setzt sich auf den Rand der Badewanne und ich mache mich an die Arbeit.

Als ich antiseptische Salbe auf seinen Wunden verteile, zittern meine Hände immer noch vor Aufregung und Adrenalin.

Vince umfasst meine Hände mit seinen und schaut mir ernst in die Augen. „Hast du jetzt Angst vor mir?"

Ich will schon dazu ansetzen, nein zu sagen. Es liegt mir auf der Zunge. Natürlich habe ich keine Angst vor Vince. Aber dann denke ich zurück an den Kampf und ja - ich hatte kurz Angst vor ihm.

Als ich schweige, seufzt er. „Ich würde dir nie auch nur ein Haar krümmen, Ella. Ich schwöre es."

Ich nicke.

„Er hat es verdient. Er hat dich geschlagen. So richtig. Und nicht nur das. Er hat dich verlassen. Was ich nie verstehen werde. Er hat es verdient, Baby." Er schaut mich aufrichtig an.

„Ich weiß.", flüstere ich.

„Du bist wertvoll, Ella. Es ist ein Privileg, dich zu kennen. Und du brauchst ihn nicht, wenn er das nicht sieht."

Wieder. „Ich weiß."

Aber ich frage mich, ob ich es tief in meinem Inneren wirklich weiß.

„Hättest du aufgehört?", frage ich. „Wenn ich nicht da gewesen wäre?"

Er ist still. Dann: „Er kann froh sein, dass ich nur seine Nase gebrochen habe."

Ich atme scharf ein.

„Aber ich hätte aufgehört. Ich bin kein Monster, Ella."

„Ich weiß." Dieses mal glaube ich mir selbst.

Vince ist kein schlechter Mensch. Er wirkt manchmal unnahbar und als wäre ihm alles egal, aber das stimmt nicht. Vince liebt uneingeschränkt und stark. Er ist für einen da, wenn man ihn braucht.

Ich trete zu ihm, nehme seine Arme und lege sie um mich. Ich stehe zwischen seinen Beinen, während wir uns umarmen.

Mir wird bewusst, dass wir den gleichen Schmerz fühlen. Auch Vince hat seinen Vater verloren. Er ist gestorben. Ich will das nicht vergleichen, ich meine nur, Vince versteht mich. Er weiß, wie es ist, ohne Vater aufzuwachsen.

Wir bleiben lange in dieser Position stehen. Bis meine Arme weh tun. Dann schaut Vince zu mir auf und lächelt mich an. Es ist ein trauriges Lächeln und mein Herz zieht sich zusammen.

Consume Me (Neue Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt