Kapitel 40

86 12 0
                                    

Der Tag zog an mir vorbei und ich schaffte es erstaunlicherweise, mich bis zum Abendessen von dem rasanten Strudel aus Grübeleien, Ängsten und Überlegungen in mir fernzuhalten. Mein schockähnlicher Zustand gestern war nur die Spitze des Eisberges gewesen und der größte Teil des gigantischen Eisblockes lauerte angriffslustig knapp unter der Oberfläche. Noch immer war ich gar nicht in der Lage, alle Informationen zu verstehen und wirklich zu begreifen, was der Vorfall gestern für mich bedeutete und was er mit mir machte. Mit einem unguten Gefühl schob ich es auf die Warteliste für nicht verarbeitete Traumata.

Zum Abendessen spielte ich wieder mit einem gezwungenen Lächeln vor, dass alles in bester Ordnung war. Meine schauspielerischen Leistungen waren jedoch geradezu erbärmlich, sodass sich sogar Brian irgendwann zu mir beugte.

„Jess, du siehst echt scheiße aus. Wir alle wissen, dass es dir nicht gut geht.", murmelte er mir leise genug zu, sodass niemand unserem Gespräch lauschen konnte.

„Ach, sag bloß. Du bist ja ein richtiger Meisterdetektiv.", zischte ich sarkastisch zurück und viel gereizter, als für mich üblich war. Auch Brian schien von meiner Antwort überrascht und musterte mich mit gerunzelter Stirn. Nach unserer ehrlichen Aussprache waren wir zwar keine Freunde geworden, doch zumindest tolerierten wir die Anwesenheit des anderen inzwischen. Das er sich um meinen seelischen Zustand sorgte, war dann doch nochmal eine neue Ebene.

Noch überraschter war ich, als Brian mit der Faust bestimmt auf den Tisch schlug und somit die Aufmerksamkeit der anderen Männer auf sich zog.

„Da keiner den Mut, die Karten auf den Tisch zu legen, werde ich das jetzt wohl tun. Wir haben alle in den letzten Wochen viel durchgemacht und verloren. Nur reden wir nicht mehr darüber, sondern jeder macht es mit sich selbst aus. Damit ist jetzt Schluss. Es wird Zeit für einen Sitzkreis.", sagte er bestimmt und erntete gemischte Reaktionen der anderen. Corban nickte zustimmend, während Raiden genervt den Kopf in den Nacken legte. Kenneth zuckte scheinbar unbeteiligt mit den Schulter und Alan schien sichtlich hin und hergerissen.

„Was ist ein Sitzkreis?", fragte ich irritiert und etwas zurückhaltend. Das klang verdächtig nach einer Therapieform und ich war definitv nicht bereit, meinen inneren Zustand vor den anderen zu offenbaren.

„Das wirst du gleich sehen.", erwiderte Brian lediglich und erhob sich. Tatsächlich folgten ihm die anderen und keiner traute sich zu widersprechen. Gemeinsam verließen wir die Kantine und etwas überfordert mit dem Vorhaben trottete ich hinter ihnen her. Wir steuerten auf Raidens Zimmer zu, da er scheinbar die meisten Sitzgelegenheiten hatte. Ich ließ mich auf dem Sofa zwischen Raiden und Corban nieder. Ich war nach wie vor skeptisch, was wir gleich für ein Ritual abhalten würden und umso überraschter, als Raiden mit einer Flasche Whiskey aus seinem Schlafzimmer zurückkam.

„Also bedeutet Sitzkreis, sich zu besaufen?", fragte ich zweifelnd und belustigt zugleich.

„Nicht ganz..." grinste Alan verhalten. „Liam führte damals das Ritual ein, dass wir bei belastenden Ereignissen zusammen kommen. Dabei wandert die Flasche einmal im Kreis und jeder, der die Flasche in der Hand hat, muss erzählen, was ihn so beschäftigt. Natürlich darf man sich danach einen großzügigen Schluck gönnen." Ich nickte verstehend, obwohl ich mir nach wie vor nichts unter dieser Vorgehensweise vorstellen konnte.

„Ich mach den Anfang.", bot Brian an und nahm die Whiskeyflasche entgegen. Ein andächtiges Schweigen entstand, als er scheinbar nach den richtigen Worten suchte. „Ich habe vor einer Woche mit Camilla, Liams Frau, telefoniert... Sie ist am Boden zerstört. Und auch mir fehlt er so unglaublich... ich kann noch gar nicht richtig begreifen, dass er niemals wieder in unserer Runde dabei sein wird. Zudem ist vor drei Wochen meine Hündin Zoey verstorben. Sie war zwar schon alt und hatte es zuletzt gesundheitlich nicht so leicht gehabt, aber sie wird mir echt fehlen." Brians Stimme klang belegt und ich erwischte mich dabei, wie ich hektisch versuchte, die Tränen wegzublinzeln.

KampfgeistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt