Kapitel 19

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Nachdem ich kurz im Bad verschwunden war, um mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen und die Spuren der Tränen zu beseitigen , folgte ich ihm diesmal in eine gänzlich andere Richtung. Wir ließen mehr und mehr die Gebäude hinter uns und gingen auf eine große, offene Fläche zu. Schon aus der Ferne hörte ich das unregelmäßige, dumpfe Knallen von Schüssen. Wir hielten auf einen etwa drei Meter großen Sandhügel zu. Je näher wir kamen, desto lauter wurden die Schüsse, bis ich erkannte, dass es sich tatsächlich um einen Schießstand handelte. Raiden befahl mir zu warten und ging auf einen älteren Mann an der Seite des Schießstandes zu. Sie unterhielten sich etliche Minuten, wobei sie sich mehrfach in meine Richtung drehte. Wollte Raiden etwa, dass ich eine dieser Waffen abfeuerte? Mein eigenes Leben wurde immer unwirklicher.  Schließlich winkte mich Raiden zu sich und ich ging zaghaft auf die beiden zu.

„Ich möchte dir gerne zeigen, wie man eine Waffe benutzt.", eröffnete mir Raiden und bestätigte damit meine Vermutung. Ich setzte an, um etwas zu sagen, doch er unterbrach meinen Einwand, bevor das erste Wort mein Mund verlassen konnte. Ich bekam zusätzlich zum Gehörschutz eine Schutzbrille und folgte Raiden zu einer leeren Schießbahn. Ich erkannte vor dem Hügel aufgebaute Zielscheiben und beobachtete ehrfürchtig die Soldaten links und rechts von mir, die mit professioneller Konzentration und routinierten Handgriffen einen Schuss nach dem anderen abgaben. Raiden legte zwei Waffen vor mir auf die Ablagefläche und erklärte mir zunächst, wie man sie hielt, nachlud und entsicherte. Er musste schreien, damit ich ihn über den Lärm überhaupt verstand. Er nannte mir die Namen der Pistole und des Gewehres, doch die komplizierte Bezeichnung aus Buchstaben und Zahlen hatte ich ziemlich schnell wieder vergessen. Ich versuchte seiner kurzen Einweisung über den Aufbau zu folgen, aber schon bald schwirrte mir der Kopf. Er ging dazu über mir zu zeigen, wie man die Pistole korrekt hielt und streckte sie daraufhin mir auffordernd entgegen. Ich nahm sie zögerlich in die Hände und war überrascht, wie schwer sie war. Ich versuchte seine Haltung zu imitieren, aber es verging eine geschlagene Minute, ehe er mit meinem Stand und meiner Haltung zufrieden war. Was so spielend leicht bei den Soldaten aussah, stellte sich als deutlich schwieriger heraus. Ich probierte mich am Zielen und schon bald verschwamm meine Sicht vor Anstrengung. Raiden trat hinter mich und half mir mit einer Hand, die Waffe zu stabilisieren, während er die andere auf meine Hüfte legte.

„Wenn du das Ziel anvisiert hast, dann drückst du langsam ab.", befahl er dicht an meinem Ohr und ich tat wie geheißen. Ich war nicht auf den Rückschlag vorbereitet gewesen und verzog die Waffe nach oben. Und so feuerte ich Schuss für Schuss ab, bis das Magazin letztendlich leer war. Gegen Ende hatte ich sogar ein paar vereinzelte Treffer auf der weißen Zielscheibe. Raiden wechselte mit geübten Griffen das Magazin, gab mir die Pistole zurück und ließ mich weiter üben. Diesmal landete der Großteil der Schüsse bereits innerhalb der Kreise und Raiden lächelte mir anerkennend zu. Wir tauschten die Pistole gegen das Gewehr und wiederholten das ganze Prozedere. Ich war tatsächlich gar nicht so schlecht und schafft es immer besser, meine Atmung zu kontrollieren und konnte zunehmend besser die Flugbahn der Kugeln einschätzen. Es fiel mir nicht schwer, die neugierigen Blicke der anderen Soldaten auszublenden und mich voll auf das Ziel vor mir zu konzentrieren. Mit Bedauern gab ich Raiden das Gewehr zurück und folgte ihm, als er es sicherte und zurück in eine schwarze Waffenkiste legte. Ich nahm den Gehörschutz und die Schutzbrille ab und strich mir meine verschwitzten Haare zurück.

Ich fühlte noch ein Rest Adrenalin durch meine Adern rauschen, als Raiden wieder neben mich trat. „Das war gar nicht mal so übel.", lobte er mich stolz und wischte mir mit dem Daumen etwas Dreck aus dem Gesicht.

„Das hat mehr Spaß gemacht, als erwartet. Auch wenn ich niemals eine Waffe gegen einen Menschen richten könnte.", warf ich ein und folgte ihm zurück auf den Weg.

„Ich habe einfach ein besseres Gefühl, zu wissen, dass du dich im Notfall verteidigen kannst."

Raiden begleitete mich noch bis zu meinem Zimmer, ehe er sich verabschiedete. „Ich habe noch ein bisschen was zu erledigen, aber wir sehen uns spätestens zum Abendessen!", versprach er, drückte mich nochmal fest an sich und eilte dann mit großen Schritten davon. Etwas ratlos stand ich vor meinem Zimmer und überlegte, was ich den restlichen Nachmittag mit mir anfangen sollte. Ich war ja schon überrascht, dass der Colonel mich nicht mit der Zahnbürste die gesamten Toiletten auf dem Stützpunkt schrubben ließ.

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