Paulas Sicht:
Da Jacky Nachtschicht hat, fahre ich zu Linnea in die Klinik. Kurz bespricht die Gynäkologin noch mit mir, wie die OP abgelaufen ist und dass sie nach der OP Linnea noch auf der gynäkologischen Station untersucht hätten. Dabei haben sie wohl Verletzungen im Intimbereich gefunden, die auf langjährigen Missbrauch und Vergewaltigungen hinweisen. Linnea tut mir so Leid.
ALs ich ihr Zimmer betrete, zuckt sie zusammen. "Hey." sage ich vorsichtig "Jacky hat mir was für dich mitgegeben." Ich hole einen Umschlag aus meiner Tasche. Darin sind Fotos, die Jacky von ihrer Mutter bekommen und dann ausgedruckt hatte. Ich drücke ihn Linnea in die Hand, die ihn vorsichtig öffnet. Foto für Foto sieht sie sich die Bilder an. "Bin ich das?" fragt sie leise. "Ja. Und das große Mädchen neben dir ist Jacky." sage ich. Ein Lächeln huscht über Linneas Lippen. 'Mission geglückt!' schreibe ich Jacky auf meinem Smartphone.
"Ich habe hier auch den Brief deiner Eltern, den sie dir hinterlassen haben für den Fall, dass du gefunden wirst." teile ich ihr mit "Soll ich ihn dir vorlesen?" Sie nickt.
Ich öffne den blass rosanen Briefumschlag und nehme die Zettel heraus Es sind mehrere Seiten, in klitzekleiner Handschrift beschrieben. Ein paar Seiten in ordentlicher Schreibschrift, die andere Hälfte in Druckschrift Ich sammle die Seiten in Schreibschrift heraus und fange an, diese vorzulesen:
"Liebe Linnea. Mein kleiner Engel. Ich hoffe so sehr, dass du gefunden wirst. Wenn du diesen Brief liest, muss das passiert sein. Der Tag, als der Kindergarten anrief und mir sagte, dass meine kleine Tochter entführt wurde, war der schlimmste Tag meines Lebens. Ich stand gerade in der Küche und kochte Milchreis, da du den so gern mochtest. All diese Monate, all diese Wochen, all diese Tage, all diese Stunden, Minuten und Sekunden habe ich an dich gedacht. Das Leben ohne dich war schrecklich. Das Haus zu leise und mein Leben nicht mehr lebenswert. Wie alt bist du jetzt? Wie siehst du aus? Wo lebst du? Wie geht es dir? Wie und wann hat man dich gefunden? Wer war dein Entführer? Die Antworten auf diese Fragen werde ich niemals erfahren. An den meisten Tagen ist es schwer für mich, überhaupt aus dem Bett zu kommen. Du warst erst vier. So jung. Wie gerne hätte ich dich aufwachsen sehen.
Als ich erfuhr, dass ich schwanger mit dir war, war ich mir sicher, dass du ein Mädchen wirst. So sicher, dass ich dein Zimmer rosa anstrich. Wir kauften eine kleine weiße Krippe, die dich in den Schlaf geschaukelt hat. Sie steht auf dem Dachboden. Du warst bei deiner Geburt so winzig, so zart. Zwei Wochen zu früh bist du zur Welt gekommen. Man hat dich mir ganz kurz auf die Brust gelegt, aber dann musstest du für ungefähr eine Woche auf die Intensivstation. Wenn du möchtest, kannst du sehen, ob die Ärztin, die bei der Geburt dabei war noch in der Klinik arbeitet. Ihr Name ist Birgit Maas. Oder die Hebamme: Sie war damals noch ziemlich jung, wollte sogar bald ihr Medizinstudium machen. Ich glaube ihr Name war Tabea Rohde oder so ähnlich. Nach zwei Wochen insgesamt durften wir beide nach Hause. Dein Papa hat uns jeden Tag besucht. Wenn du geweint hast, hast du dich meistens trösten lassen indem man dich auf den Arm genommen hat. Aber manchmal, wenn es dir gerade zu laut oder zu anstrengend war haben wir dich in deine Krippe gelegt und du warst sofort still.
Wenn man unser Haus gelassen hat, wie wir es hinterlassen haben, wirst du unter deinem Bett einen Karton finden, der dieselbe Farbe hat wie der Briefumschlag. Darin findest du eine Art Memory Box. Babyklamotten von dir, dein erstes Krankenhausarmband, dein Lieblingslätzchen, Bilder, Videos und vieles mehr. Du warst so ein niedliches Kind. Dein absolutes Lieblingsessen war Milchreis. Du liebtest rosa über alles, und dein kleines Schnuffel-Lama hast du überall mit hin genommen. Einmal ging es im Zoo verloren, und für dich ging die Welt unter. Du hast fast zwei Tage lang nicht geschlafen, bis es gefunden wurde. Ich habe es auch in den Karton gelegt. Wenn deine Cousine Jacky da war, hast du bis spät abends mit ihr gespielt. Vielleicht kannst du sie besuchen. Sie heißt Jacqueline Wendt und wohnt in Köln. Wir hatten früher viele Kinderlieder-CDs, aber die hast du fast nie gehört. Deine Lieblingslieder waren die von ABBA, du hast immer stundenlang getanzt wenn du sie gehört hast. Im Kindergarten hattest du eine kleine Freundesgruppe: vielleicht erinnerst du dich an sie. Die drei heißen Nano Schwartz , Marie Brieske und Klara Fernandez. Nachdem du verschwunden bist haben die drei immer wieder nach dir gefragt. Du hattest immer wieder so süße Versprecher, zum Beispiel hast du eine Zeit lang statt Schildkröte immer "Grillschöte" gesagt. Abends haben wir uns alle zusammen aufs Sofa gesetzt und ein Buch zusammen gelesen. In der Sandkiste hast du immer eine kleine Stadt für die leeren Schneckenhäuser gebaut, die wir im Garten gefunden haben da du dachtest dass sie noch lebende Schnecken wären. Diesen Brief schreibe ich am 02.08.2010. Die Sonne scheint auf den Tisch, an dem ich sitze. Es ist schon fast neun Uhr abends, und die Sonne geht jetzt erst unter. An dem Tag, wo du verschwunden bist, also vor zwei Monaten, saß ich an diesem Tisch zusammen mit Papa und habe mir die Augen ausgeweint. Vor fast genau zwei Monaten bist du verschwunden. Vor einer Woche teilte die Polizei uns mit, dass du vermutlich tot bist und man dich nie finden würde, da du vermutlich von Menschenhändlern entführt wurdest und man da nichts tun kann. Morgen beende ich es. Zusammen mit Papa. Ohne dich halte ich es nicht mehr aus. Ich verabschiede mich von der Welt und dann ist es vorbei. Ohne mein Goldlöckchen, mein Engelchen, mein Baby, mein Liebling, meine kleine Maus ist das Leben nichts mehr wert.
Fühl dich umarmt, mein Schatz.
Deine Mama❤❤❤"
Ich sehe hoch zu Linnea, die ausdruckslos auf ihrem Bett sitzt. "Soll ich dir den von deinem Papa auch vorlesen?" frage ich sie. Sie nickt. Vorsichtig hole ich die anderen Seiten aus dem Briefumschlag.
Authors Note:
Mannomann, Freunde der Sonne! Mehr als 40 Kapitel schon! Bleibt dran <3
Das nächste Kapitel kommt vermutlich gleich :)
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Der Wind in meinem Gesicht
FanfictionLinnea, 14 Jahre alt, hatte ein hartes Leben: sie ist auf geheimnisvolle Weise als Kind verschollen und an ihren "Vater" geraten. Dieser schlägt, missbraucht, schändet und vergewaltigt sie andauernd. sie wohnte bisher in einem kleinen Raum im Keller...