Kapitel 48

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Jackys Sicht: "Darf ich?" fragt Linnea grinsend am Frühstückstisch. Ich nicke, da ich gerade noch einen Bissen meines Frühstücks im Mund habe. Schnell kaue ich auf und sage: "Ich bringe dich hin, schließlich muss ich sowieso gleich zur Wache." Mit einem Lächeln im Gesicht läuft sie in den Flur um sich ihre Schuhe anzuziehen.

Wenige Minuten später umarme ich sie zum Abschied und sehe zu, wie sie zu ihren Freundinnen geht. 

Linneas Sicht: 

Heute ist die Gewaltprävention mit der Polizei. Nachdem Jacky mich zur Schule gebracht hat gehe ich zu Marie, Klara und Nano. Bald beginnt die erste Stunde und es klopft an der Tür. Unser Lehrer öffnet und es kommen zwei Polizisten rein. "So, liebe Klasse. Heute ist, wie schon angekündigt, eine Gewaltprävention zum Thema sexuelle Gewalt und Missbrauch. Diese wird geleitet von diesen beiden Polizisten. Wollen sie sich einmal vorstellen?" Die blonde Polizistin kenne ich aus dem Krankenhaus. Sie war total nett zu mir.

P(aul): "Ja, ich bin Paul Richter und seit etwa 10 Jahren bei der Polizei."

H(annah): "Ich bin Hannah Becker und seit circa drei Jahren bei der Polizei. Ich würde mal sagen, jetzt kann es los gehen. Wir haben eine Präsentation mitgebracht und würden die jetzt einmal vorstellen. Danach machen wir noch ein bisschen Gruppenarbeit, dann eine Pause. Nach der Pause besprechen wir die Ergebnisse und anschließend haben wir ein Rätsel für euch."

Schnell bauen die Beiden eine Leinwand, einen PC und einen Beamer auf und es geht los. ich versuche gerade das Wort auf der ersten Folie zu entschlüsseln, da liest die blonde Polizistin es schon vor: "Sexueller Missbrauch. Jeden Tag werden 48 Kinder und Jugendliche in Deutschland Opfer sexuellen Missbrauchs. Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher Opfer sexuellen Missbrauches wird, heißt das, dass jemand anderes sie oder ihn ohne Erlaubnis anfasst." Sie redet eine ganze Menge. Irgendwann redet auch der Mann, und dann wieder die Frau. Sie wechseln sich mit Reden ab, zeigen Bilder und Statistiken und es ist eigentlich ganz interessant. Ich bin nicht alleine. Jeden Tag 47 Andere. Aber langsam wird es mir klar. Die ganzen Jahre hat er mich missbraucht- und ich dachte zehn Jahre lang, dass es völlig gerechtfertigt wäre. Weil ich zu laut war, weil ich zu doll weinte, weil ich so doof geguckt habe. Er hat sich immer wieder Ausreden ausgedacht, mit denen er seine Gewalt rechtfertigen wollte. Meine Hände schwitzen und zittern. Verdammte Scheiße, zehn Jahre lang. In den ersten paar Tagen meiner Gefangenschaft weinte ich nur. Vielleicht sah er das als Grund, mich anzufassen. Von da an begrapschte er mich fast jeden Tag. Und ich dachte, es wäre meine Schuld. Etwas pikst mich in die Seite. "Alles gut?" fragt Marie. Ich nicke. Eigentlich überhaupt nicht. Gar nichts ist okay. Es war nie meine Schuld. Aber was wenn doch? Ich hätte nicht so viel weinen müssen. Meine Augen füllen sich mit Tränen wie ein Glas Wasser unterm Wasserhahn. "...das kann von sexueller Belästigung wie ungewollte Berührungen bis hin zu Vergewaltigungen reichen..." höre ich. Meine Fingerspitzen fangen an zu kribbeln, und die Welt um mich herum verschwimmt. 

Maries Sicht:

Neben mir wird Linnea immer unruhiger. Ich sehe auf die Uhr. Erst in 20 Minuten haben wir eine kleine Pause. Sie sieht aus als müsste sie gleich weinen und ihre Hände zittern. Also hebe ich meine Hand: "Entschuldigung, aber dürfte ich kurz mit Linnea raus?" der männliche Polizist nickt, unser Lehrer sitzt am Lehrerpult und sieht nicht mal von seinen Papieren auf und die weibliche Polizistin kramt gerade in ihrer Tasche. Ich ziehe Linnea an der Hand nach draußen. Sie stolpert ein wenig verdattert hinterher. Ich gehe ein paar Meter in einen naheliegenden Gang, in dem sich Bänke befinden, setze sie auf eine dieser Bänke und knie mich vor ihr hin. "Was ist los?" frage ich. Sie zittert am ganzen Körper und ihre Augen huschen die ganze Zeit im Gang umher als suche sie etwas. "Linnea?" sage ich nochmal. Endlich reagiert sie. Kurz sieht sie mir ins Gesicht. "Beruhig dich, Linnea. Es ist alles gut." versuche ich sie zu beruhigen. Hat sie gerade eine Panikattacke? Und wenn ja, weshalb? Sollte ich Nano dazuholen? Sie ist ja im Schulsanitätsdienst, da müsste sie ja wissen was zu tun ist, oder? Allerdings wäre es auch komisch wenn wir zu dritt raus gehen würden. "Linnea, ich hole jetzt Nano dazu. Die weiß was zu tun ist. Ich nicht, also kipp jetzt bitte nicht um oder lauf weg. Ich bin gleich wieder da." fasse ich einen Entschluss und jogge zur Klassenzimmertür. Das wird jetzt peinlich. Ich öffne die Tür, gehe durch den Klasseraum bis zu Nanos Platz und flüstere ihr zu, dass sie bitte mal mitkommen soll, da ich glaube dass Linnea gerade eine Panikattacke oder so hat. Sie steht zügig auf und geht auf die Tür zu. Unser Lehrer guckt uns verdutzt hinterher, als die Tür hinter uns zu fällt. "Sie hat die ganze Zeit während der Präsi schon total nervös gewirkt und irgendwann hatte ich das Gefühl dass es besser wäre wenn sie da raus kommt. Außerdem atmet sie total schnell und guckt sich die ganze Zeit nervös um." erkläre ich Nano die Situation. Wir biegen um die Ecke und sehen Linnea immer noch zitternd auf der Bank sitzend. Nano geht zu ihr und hockt sich vor sie wie ich kurz davor. "Hey Linnea, Ich bin Nano, mich solltest du ja kennen. Ich berühre dich jetzt mal, erschrick dich nicht." sie nimmt Linneas Hände in ihre Hände. "Du atmest ziemlich schnell, atme mal mit mir. Ein...-Aus...-Ein...-Aus...-Ein... ja, gut so. Bekommst du einigermaßen gut Luft?" fragt sie. Linnea zögert kurz, schüttelt dann aber vorsichtig den Kopf. "Okay, du bekommst schlecht Luft. Setz dich mal mit geradem Rücken hin- ja, so- und stütz dich mit den Händen auf den Knien ab. Perfekt." Ich habe sie noch nie bei einem Einsatz gesehen, aber sie ist verdammt einfühlsam. "Kannst du mir eine Sache nennen, die du fühlst?" "Die Bank?" "Ja, zum Beispiel. Kannst du mir zwei Sachen nennen, die du hörst?" "Dich, und, ähhh, die anderen Klassen?" "Super. Drei Sachen die du siehst?" "Bank, Fenster, Tür." "Klasse. Geht es wieder mit der Luft?" Linnea nickt. Ich stehe komisch ein bisschen abseits von den beiden. "Kannst du mir sagen warum du so Panik hattest?" "Naja... Die Präsentation hat mich daran erinnert was der Typ der mich entführt hat mit mir gemacht hat." Ich sehe zu Nano. Sie guckt genau so geschockt zurück. "Möchtest du drüber reden?" Linnea schüttelt den Kopf. Ein paar Sekunden sitzen wir alle schweigend da. "Ich denke wir sollten wieder zurück in die Klasse gehen." sage ich irgendwann, um die Stille zu unterbrechen.

Der Wind in meinem GesichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt