Nachdenklich blickte Lysander aus dem Fenster.
Schnee fiel in dicken Flocken aus dem grauen Himmel und es war so kalt, das jeder einzelne Stern draußen auf dem Asphalt liegenblieb.
Es war schön.
Joanna hätte ihre Freude daran.
Doch sie hatte in ihrem letzten Brief geschrieben, dass es bei ihr nicht schneite.
Sie würde Weihnachten nicht nach Hause kommen, weil ihre Eltern geschäftlich verreisen mussten. Sie würde in England bleiben und Lysander allein.
Er müsste sich daran gewöhnt haben, schließlich war es seit einem Jahr so, dass er sie kaum zu Gesicht bekam.
Nicht, seit sie dieses unglaubliche Angebot bekommen hatte, auf der London School of Music ihre Ausbildung zur Sängerin zu vertiefen.
Sie schrieb ihm jeden zweiten oder dritten Tag. Auf die altmodische Art und Weise. Per Brief.
Er hatte jeden einzelnen aufgehoben und verwahrte sie in einem polierten hölzernen Kästchen mit kostbaren Intarsien, welches er von seinen Eltern geschenkt bekommen hatte. Ganz im Sinne seiner Vorliebe für das Viktorianische und Steam Punk allgemein.
Er seufzte.
Er hasste es, jemanden zu vermissen. Doch ihm wäre nie in den Sinn gekommen, sie zu bitten, nicht nach London zu gehen, denn eine solche Chance, auf dieser Schule zu lernen, bekam man nur einmal im Leben. Er wollte, dass sie glücklich war und Singen war ihr Ein und Alles.
Gleich nach ihm, wie sie ihm versichert hatte.
Ihr Talent überstieg seines um Längen, denn wo er nur poetische und anzügliche Rocksongs schreiben konnte, war sie in der Lage, die schwierigsten Arien der kompliziertesten Opern zu singen, jeden Ton zu halten und einen Raum bis in den letzten Winkel mit ihrer Stimme zu füllen.Er setzte sich an seinen – ebenfalls altmodisch viktorianischen – Schreibtisch und zog eine Schublade auf. Nach seinem guten Papier und dem Füller suchend, legte er in seinem Kopf Worte zurecht.
Sein bester Freund Castiel sagte, er würde sich wie ein liebeskranker Dichter benehmen, der noch an seiner Sehnsucht sterben würde. Wie Hemingway oder so.
Er meinte es sarkastisch, aber im Grunde hatte er Recht, denn Lysander verging vor Sehnsucht. In dem Jahr, das Joanna nun weg war, hatte er sie einmal persönlich gesehen und ansonsten nur über Skype, was der Junge mit den silbernen Haaren aber nicht mochte. Er vertraute der modernen Technik nicht so recht. Und er konnte sie nicht anfassen. Das war eine Qual.
Er schaltete die Tischlampe an, als er auch nach fünf Minuten Suchen den Füller noch nicht hatte. Es war eindeutig zu dunkel nur mit Kerzen und einer Lichterkette am Fenster.
„Mann..." nörgelte er leise und griff nach dem verflixten Stift, der zwischen zwei Notizbüchern feststeckte.
Als er ihn hatte, legte er ihn neben das Papier und funkelte den kleinen Gegenstand an, als hätte der ihn gebissen.
Sich in den Sessel lehnend las er erneut Joannas Brief.
Sie berichtete von ihrem Schulalltag, der so anders war als der an der Amoris.
Klar, die Amoris hatte nicht als Hauptfach Kunst, Musik und Schauspiel.
In ihrer fröhlichen Art schrieb sie einfach so runter, was ihr in den Sinn kam. Lysander lächelte, denn es amüsierte ihn. Sie machte auch gern diese kleinen Smileys hinter die Sätze und in jedem :) konnte er ihr süßes Lächeln sehen.
Unter ihrer Unterschrift lagen seine Augen einen Moment auf dem Satz, der zu einem Ritual für sie beide geworden war.
Ich bin din...
Ein Strophenfragment aus einem uralten Gedicht von Walther von der Vogelweide.
Du bist min, ich bin din, des sollst du gewiss sin...Er hob das Papier an seine Nase und erahnte noch einen Hauch ihres zarten Parfums. Sie hatte den Brief damit bestäubt, doch der Duft war verflogen.
Mit gespitzten Lippen schraubte er den Füllfederhalter auf und schob sein Papier zurecht.Meine Liebste,
Dein Brief war ein kleiner Trost für meine Sehnsucht nach dir, die nun doch nicht gestillt werden kann. Ich bedauere wirklich, dass Du es nicht schaffst, Weihnachten nach Hause zu kommen.
Ich hatte mich darauf gefreut, Dich in meine Arme zu schließen und Deinen Duft in der Nase zu haben.
Deine parfümierten Briefe helfen, aber nur für einen Augenblick.
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Kleine Worte [AS]
FanfictionEine Sammlung von Oneshots zu diversen Charakteren aus Sweet Amoris (Vieles davon sind Auftragsarbeiten zu diversen Genres - Romantik, Drama, Science Fiction, School Life etc. - Wenn ihr auch einen Oneshot von mir wollt ---> SCHAUT INS ERSTE KAP...