Überleben

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Ich versteckte mich.
Ich schämte mich so, aber ich hatte so furchtbare Angst. Ich sollte doch kämpfen! Ich sollte irgendetwas tun, um ihnen zu helfen... doch ich konnte nicht. Alles in mir war erstarrt und ich wagte es kaum, durch die Schlitze meines Versteckes zu spähen.
Was hätte ich auch sehen können, was ich nicht bereits kannte?
Sie waren da!
Sie waren eingefallen in unser Dorf. Dabei hatten alle gesagt, wir wären sicher hier.
Doch jetzt waren fast alle tot... Gefressen von diesen Viechern, in Stücke gerissen, schreiend, sterbend.
Und ich zitterte in meinem Versteck wie ein Feigling...

Nihal erwachte und sah sich orientierungslos um. Wo war sie?
Sie blickte an die Decke eines einfachen und schmucklosen Zimmers.
Ach ja richtig... Sie war im Garden.
Die Soldaten hatten ihr Dorf gesäubert. Die Viecher abgeschlachtet und die wenigen Überlebenden geborgen. Sie hatten sie in ihrem Versteck ausfindig gemacht und mitgenommen.
Und jetzt lag sie in einem Krankenzimmer im Garden, der letzten Allumfassenden Akademie der Menschen.
Es gab nur noch wenige Flecken auf der Erde, auf denen die Menschen leben konnten nach der Invasion.
An jedem anderen Ort wurde man gefressen. Menschen waren Beute für diese Dinger.
Und niemand wusste, wo sie hergekommen waren. Einige meinten, es waren Aliens, die diesen Planeten als Futterreservoir verwenden wollten. Andere vermuteten, dass irgendwelche verrückten Wissenschaftler diese Wesen gezüchtet hatten und letztlich die Kontrolle verloren.
Jedenfalls wurden es immer mehr, sie wuchsen und sie lernten.
Und sie machten Jagd.
Auf jeden Menschen, jeden Mann, Frau und Kind.
Sie spürte heiße Tränen in ihrem Augen und wischte sie wütend weg.
Auch ihre Familie...
Und sie hatte nichts getan. Sie hatte sich in einem Schrank versteckt und zugesehen, zugehört, wie ihr Vater zerrissen wurde, hatte zugehört, wie ihre Mutter gefleht hatte, man möge sie und Nihals kleinen Bruder verschonen.
Doch diese Wesen verstanden die menschliche Sprache nicht, verstanden Gefühle nicht, kannten kein Erbarmen, wenn es darum ging, genügend Nahrung zu kriegen.
Sie sammelten Beute, Fleisch und fütterten ihre Jungen damit.
Kleine Biester, die noch bösartiger und verfressener waren als die ausgewachsenen Exemplare.
Das Mädchen setzte sich auf und strich sich die dunklen Haare aus dem Gesicht.
Ihre Kleidung war zerschlissen und schmutzig, doch sie entdeckte auf einem Stuhl neben sich einen khakifarbenen und sehr zweckmäßigen, aber sauberen Armee-Overall. Müde stand sie auf und schälte sich aus den letzten Überresten ihres alten Lebens.
Ihre Familie war ausgelöscht.
Sie war allein.
Und sie wollte ihre Schuld begleichen. Niemals wieder wollte sie weglaufen und sich verstecken wie ein Kind! Sie wollte kämpfen und diese Viecher bis auf die letzte Larve ausrotten.

„Deckung!"
Kentin brüllte über den Platz und eine Übungsgranate detonierte.
Staub bedeckte die Rekruten und jeder schützte seine Augen oder seinen Kopf.
Überall detonierten Gegenstände und man hörte Geschützfeuer aus Übungskanonen und Maschinengewehren.
Wie jeden Tag trainierten die jungen Rekruten den Ernstfall.
Einen Einsatz außerhalb der geschützten Zone. Eine Vernichtungsmission.
Denn das war die Aufgabe der Soldaten, die ausgebildet wurden, um den Wesen auf den Leib zu rücken.
Mit allen erdenklichen Waffen.
Denn die Krabbler, wie die Rekruten die Viecher nannten, waren nicht sehr robust. Aber sie waren schnell und sie waren stark.
Das war es, was sie gefährlich machte. Und sie waren viele. Sehr viele.
Die Leitung des Gardens, welche mit dem Kampf gegen sie betraut war, bildete seit Generationen die Soldaten aus, die die Überlebenden beschützten.
Doch so viele jedes Jahr ausgebildet wurden, so viele gingen auch drauf.
Und die Menschen wurden derweil immer weniger.
Denn noch immer gab es versprengte Siedlungen, in denen die Menschen sich verschanzten und versuchten, zu überleben, bis die Soldaten des Gardens ihnen zu Hilfe kommen konnten.
Und noch immer starben diese Menschen täglich, wenn ganze Herden der Wesen über diese kleinen Widerstandsnester herfielen.
Wieder detonierte eine Übungsgranate und der Anführer der Trainingsgruppe, der 19jährige Kentin zog den Kopf ein.
Er zog seine Waffe und schoss auf die in den Trümmern auftauchenden Schießscheiben, die er alle direkt in der Mitte traf.
„Die Übung ist abgeschlossen. Die Rekruten verlassen bitte das Feld für die nächste Gruppe."
Die unsichtbare Stimme des Ansagers hallte durch den Staub des Trümmerfeldes und die jungen Leute erhoben sich aus den losen Steinen, dem Staub und dem gesplitterten Holz der getroffenen Ziele.
Kentin rubbelte sich den Schmutz aus den Haaren, nahm sein Gewehr und machte sich auf den Weg zum Ausgang.
„Gut gemacht, McCormac. Eine Trefferquote von 98 Prozent."
„Danke Sergeant. Aber das ist nicht genug... die zwei Prozent könnten mir oder jemand anderem den Kopf kosten."
Mit hartem Blick nahm der Junge sich eine Wasserflasche und schmiss sich im Pausenraum auf einen Stuhl.
Der ältere Mann sah ihm nach und schüttelte leicht den Kopf.
Sie alle hatten schreckliche Erfahrungen seit der Invasion gemacht und viel Leid gesehen, doch es überraschte ihn immer wieder, dass es gerade die ganz jungen Soldaten waren, die die dicksten Eier hatten.
Und dieser hier, Kentin, war ganz besonders ehrgeizig und fand an allem und an jedem etwas auszusetzen.
Die anderen Soldaten und Rekruten mochten ihn nicht. Er war ihnen zu glatt, zu perfektionistisch, zu kalt.
Doch man konnte sich auf ihn verlassen. Er riskierte in jeder Außenmission seinen Arsch für die Menschen und die Soldaten an seiner Seite.
Warum er im Garden war, wusste niemand so genau.
Eines Tages war er vor den Toren aufgetaucht, ein kleiner Junge, halb verhungert, verschrammt, verletzt, verängstigt und stumm, wenn man ihn fragte, was geschehen war.
Doch der Sergeant konnte es sich denken.
In der Sicherheitszone gab es viele Waisenkinder wie ihn.
Die Wesen verschmähten Kinder häufig, wenn sie zu klein waren. Sie waren ihnen nicht fleischhaltig genug, wenn sie nicht gerade Jungtiere zu ernähren hatten.
Er brauchte lange, um sich in der neuen Gemeinschaft einzuleben und begann bereits früh, das Soldatenhandwerk lernen zu wollen. Mit nicht einmal ganz zehn Jahren konnte er bereits schießen und war mittlerweile einer der besten Scharfschützen, die der Garden hatte.
Beliebt, hin oder her, aber dieser Junge hatte schon vielen seiner Männer das Leben gerettet.

Kleine Worte [AS]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt