Abenddämmerung

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>>> Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, der ist nur fern; tot ist nur, wer vergessen wird. <<< (Immanuel Kant)
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Leise stand ich auf und verzog das Gesicht.
Mein Körper schmerzte und die Flexüle in meinem Handrücken piekste mich, weil sie heute frisch eingesetzt wurde, die Haut darunter aber wund war. Denn ich trug dieses Ding immer.
Seit einem halben Jahr war ich wieder dauerhaft im Krankenhaus.
Und dieses Mal würde es anders werden als die Male zuvor.
Ich ging ans Fenster und sah hinaus.
Es war Sommer und warm draußen, doch davon spürte ich nichts.
Mir war immer kalt. Das war eine der Nebenwirkungen meiner Medikamente und der Chemotherapien, die ich mitgemacht hatte.
Die Sonne war orange und der Blick auf das gepflegte Krankenhausgelände sehr hübsch. Auch mein Zimmer war komfortabler eingerichtet, wie man es von einem Patientenzimmer erwarten würde.
Aber das hier war die Kinder- und Jugendkrebsstation.
Die „Gäste", wie man die jungen Patienten hier liebevoll nannte, waren oft für Wochen und Monate hier und man wollte, dass sie sich trotz der ganzen Schmerzen wenigstens ein bisschen wohl fühlten.
So sah mein Bett nicht wie ein übliches Krankenbett aus, ich hatte einen Schrank, Bücherregale, Stofftiere, einen Tisch mit mehreren Stühlen, an denen ich für die Schule lernte, einen Fernseher und ein Gästesofa. Und ich schlief allein hier.
Ich wollte keine Zimmergenossen. Mich machte es fertig, das Leid anderer Krebspatienten zu sehen und wollte auch nicht, dass man mein Leid sah.
Ein Geräusch zog meine Aufmerksamkeit auf sich und ich wandte den Kopf zu dem Sofa.
Ein Lächeln, dass meiner empfindlichen Haut wehtat, schlich sich auf mein Gesicht.
Mein bester Freund lag dort, unter einer leichten Decke, sein rotes Haar zerzaust, sein sonst so sorgenvolles Gesicht entspannt.
Seit ich wieder eingeliefert wurde, war er jeden Tag hier. Manchmal sogar über Nacht. Hier auf der Station galten andere Regeln, was das Besuchen anging. Wenn es den „Gästen" half, Freunde und Familie rund um die Uhr um sich zu haben, gestattete man das, außer es wurde ihnen Ruhe verordnet.
Mein Blick lag noch immer auf ihm.

Jemand Kluges hatte mal gesagt, dass es sinnlos wäre, zu versuchen, das Leben unnütz zu verlängern, wenn es nichts gab, was es lebenswert machte. Stattdessen sollte man versuchen, die Zeit, die man hatte, so zu nutzen, dass es nichts gab, was man bereuen oder bedauern musste, getan oder nicht getan zu haben.
Gib nicht dem Leben mehr Jahre, sondern den Jahren mehr Leben oder so.

Castiel hatte das für mich getan. Er hatte meine Jahre mit Leben gefüllt, als ich glaubte, ich hätte bereits alles verloren.
Ich lernte ihn kennen, als ich das erste Mal ins Krankenhaus kam. Damals war ich 10. Eigentlich hatte mein Hausarzt nur einen Routinecheck mit mir machen wollen, aber dann festgestellt, dass ich in der Zeit vor dem Check ungewöhnlich oft krank war, mein Blutbild schlecht aussah, ich beim kleinsten Stoß blaue Flecken bekam und häufig Nasenbluten hatte.
Er schickte mich vorsorglich zu einer Untersuchung ins Krankenhaus und man diagnostizierte bei mir ALL, akute lymphoblastische Leukämie.
Eigentlich eine Krankheit, die bei Kindern häufiger vorkam und in mindestens 80% der Fälle heilbar war.
Und nun stellt euch mal vor.
Richtig.
Ich gehörte scheinbar zu den 20 %, auf die das nicht zutraf.
Man hat mich nach meiner Diagnose gleich im Krankenhaus drin behalten und fünf Tage später begann meine erste Chemotherapie.
Ich verlor meine Haare - meine Mutter weinte um mein wunderschönes silbernes Haar - und ich nahm rapide Gewicht ab.
Aber ich hatte keine Angst.
Damals nicht.
Warum auch? Man hatte mir und meinen Eltern damals erklärt, dass ALL eine sehr große Heilungsrate hatte und das nur sehr wenige der erkrankten Kinder letzten Endes wirklich daran starben. Ich glaubte das.
Ich denke einfach, die Menschen waren so gestrickt, dass sie immer an das Gute glaubten.
Ich war voller Zuversicht, aber meine Eltern waren besorgt. Heute weiß ich das.
Anfangs fand ich es aufregend, im Krankenhaus zu sein.
Die Schwestern waren sehr nett hier auf der Station, es gab Spielzeug, es gab Bücher und das Essen schmeckte eigentlich ganz gut.
Zumindest tat es das, bis die Therapie anschlug.
Von dem Tag an musste ich mich zum Essen zwingen. Zeitweilig wurde es so schlimm, dass ich über eine Kanüle ernährt wurde, weil ich nichts Festes drinbehielt.
Aber wie die meisten Kinder steckte ich das alles recht gut weg und auf einem meiner Wege durch das Krankenhaus landete ich auf der normalen Kinderstation.
Ein schwarzhaariger Junge fiel mir auf, der sich hinter einer Tür versteckte und als ich ein paar Schritte weiterging, hörte ich zwei Schwestern reden.
„Hast du Castiel gesehen? Du weißt schon, der kleine Junge aus der 209. Er soll jetzt zum Blutabnehmen. Er wird doch morgen operiert."
„Nein. Ist er schon wieder weggelaufen?"
Die jüngere der beiden Schwestern nickte und schürzte die Lippen.
Ich fragte mich, ob das der Junge war, den ich gesehen hatte. Seine Augen wirkten gerötet und er blickte sich um, als hätte er Angst.
Ohne, dass die Frauen mich bemerkten, drehte ich wieder um und betrat das Zimmer, aus dem der Junge hervorgeschaut hatte. Es war ein Ruheraum für Besucher und er hockte hinter der Tür.
„Hallo." sagte ich. Meine Stimme war leise. Die Medikamente hatten sie so werden lassen.
„Lass mich. Du verpetzt mich bloß."
„Bist du Castiel?"
Er sah mich an und mir fielen seine grauen Augen schon damals auf. Er sah aus, als hätte er geweint, aber er nickte.
„Warum versteckst du dich?"
„Ich will nicht operiert werden..." sagte er, versuchte, mutig zu klingen, aber das klappte nicht. Seine Stimme zitterte und klang nach Tränen.
Ich setzte mich auf einen Stuhl. Langes Stehen strengte mich an.
„An was wirst du denn operiert?"
„An den Mandeln." Er wurde immer leiser.
Ich lachte leise und sein Blick wurde sofort böse. Als hätte ich ihn beleidigt.
Etwas, dass er auch mit 18 Jahren nicht würde abgelegt haben.
„Tut mir leid. Ich wollte dich nicht auslachen. Aber hat dir denn keiner gesagt, dass du nach der Operation jede Menge Eis essen darfst?"
Sein Blick lichtete sich wieder etwas und er schüttelte langsam den Kopf.
„Echt?"
Ich nickte und ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Es machte sein Gesicht gleich freundlicher.
„Das ist gar nicht so schlimm. Nur den ersten Tag, wenn du nicht richtig essen kannst. Aber dafür bekommst du immer Wassereis, wenn du welches willst."
Er stand auf und putzte sich mit den Händen den Hosenboden sauber.
„Ok, ich mach's. Aber wenn du mich angeschwindelt hast, komm ich und box dich, klar?"
Ich nickte und er öffnete die Tür. Bevor er draußen war, drehte er sich noch mal zu mir um.
„Wie heißt du und wo ist dein Zimmer?"
„Ich heiße Lysander und liege in 412."
Er nickte mit einem Lachen, verschwand und ich kehrte in mein Bett zurück.
Und drei Tage später stand er echt in meinem Zimmer. Mit einem Kühlverband um den Hals und ein bisschen heiser, aber er war da und wusste sogar noch meinen Namen.
„Und? Bist du zum Boxen gekommen?"
Er schüttelte den Kopf und sah sich um.
„Ich wusste nicht, dass du hier liegst... also hast du... wie heißt das? Leukimie?"
Ich nickte.
„Leukämie. Aber es ist schon fast wieder gut." Ich zog mir die Stoffmütze auf den haarlosen Kopf, denn er sollte mich so nicht sehen. Es war mir unangenehm.
„Na ich hoffe doch. Nicht das du jetzt rumheulst. Was hast du denn hier so an Spielsachen?"
Er hüpfte zu mir auf das Bett und sah sich um.

Kleine Worte [AS]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt