Ein paar Fetzen Papier

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Fröstelnd sitzt der hochgewachsene Junge auf einer Bank unter einem alten Baum. Sein Blick liegt auf dem großen Gebäude aus rotem Backstein und weißen Gittern an den Fenstern. Eine Mauer mit Eisenzaun trennt es von der Straße, vom Leben, von allem.
Trennt sie von ihm.
Mit zitternden Fingern greift er nach seinem Spiralnotizbuch und einem Stift.

Aleika,

ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, dir zu erklären, wie es mir geht, seit du weg bist.
Ich hatte mir vorgenommen, böse auf dich zu sein, weil du mich durch so viel mitgeschliffen hast, weil du mir zugemutet hast, dass ich Todesängste um dich ausgestanden habe, dass du auf mir und den Sorgen, die ich mir um dich gemacht habe, rumgetrampelt bist.
Aber ich kann es nicht. Ich kann nicht böse auf dich sein.
Denn dafür bist du mir zu wichtig. Dafür vermisse ich dich zu sehr. Dafür wünsche ich mir zu sehr die Zeit zurück, in der es dir gut ging und wir zusammen gelacht haben.
Eine Zeit, die wir verloren haben.
Soviel geht mir im Kopf herum, dass ich nicht weiß, wie ich das alles loswerden soll.
Ich habe Schuldgefühle. Und ich bin sauer.
Beides zusammen.
Denn erstens muss ich ein schlechter Freund gewesen sein, wenn ich nicht gemerkt habe, was in deinem Leben abging. Andererseits hast du mir nicht genug vertraut, um es mir einfach zu sagen.

Ich muss das, was in den letzten Wochen und Monaten geschehen ist und was uns zu dieser Situation geführt hat, irgendwie verarbeiten können.
Ich bin nicht gut im Reden, also werde ich wohl niemandem davon erzählen. Wer sollte sich das außerdem anhören?
Mein Bruder hat keine Zeit und ganz andere Sorgen und Castiel...? Ich bitte dich. Er ist mein bester Kumpel, aber wenn es um Gefühlsdinge und Emotionales geht, ist er etwa so sensibel und empfänglich wie ein Holzklotz.
Du hast dich monatelang vor mir verschlossen und mir das Gefühl gegeben, dir lästig zu sein, obwohl ich gleichzeitig immer an deiner Seite sein sollte.
Also denke ich, es ist nur fair, wenn ich dir die ganze Angelegenheit schildere.
Ja, ich weiß, du warst dabei. Aber du warst so in deiner eigenen Spirale gefangen, dass du nicht bemerkt haben kannst, wie sehr du mich damit belastet hast.
Und das, obwohl ich dir geschworen hatte, immer für dich da zu sein. Ohne etwas zu fordern oder von dir zu verlangen, obwohl ich das wollte.
Denn auch ich hatte mein Päckchen zu tragen, das schwerer wurde, je mehr Zeit wir miteinander verbrachten.

Ich erinnere mich, als mir das erste Mal auffiel, dass du begonnen hast, dich zu verändern.
Das war vor einem Jahr.
Dein Stiefvater war gerade ein paar Wochen zuvor bei deiner Mutter und dir eingezogen und bis zu diesem Tag war es deine größte Freude, dich über ihn auszulassen, über ihn zu schimpfen und herzuziehen.
Du und Castiel, ihr habt euch gegenseitig übertrumpft mit Gemeinheiten über eure Väter und ich musste immer verhindern, dass ihr in Streit ausbracht, welcher von ihnen der Schlimmere sei.
Aber von einem Tag auf den anderen war das vorbei.
Wenn Castiel dich ermutigen wollte, mitzumachen, wurdest du sauer und angespannt. Mir fiel auf, dass du schreckhafter wurdest und lieber als sonst deine Zeit in der Schule verbringen wolltest.
Ich Idiot dachte mir allerdings nichts dabei.
Ich hatte die absurde Vorstellung, dass es etwas an oder in der Schule gab, das dich zum Verweilen zwang. Ehrlich, ich vermutete damals, du hättest dich in unseren Schulsprecher verguckt. Das hat mich genervt.
Doch wie hätte ich das, was wirklich Phase war, denn ahnen sollen?
Einmal erwischte ich dich hinter der Turnhalle, wie du geweint hast, erinnerst du dich?
Als ich mich zu dir setzte und meinen Arm um dich legen wollte, hast du mich weggeschubst.
„Fass mich nicht an, ich bin doch keine Memme, die getröstet werden muss."
Das waren deine Worte. Angeschrien hast du mich.
Obwohl ich nett sein wollte.
„Aber du weinst. Willst du reden?"
„Nein. Lass mich in Ruhe."
Das war das erste Mal, dass du mich zurückgestoßen hast. Ich sah, dass es dir leid tat, und hatte das Gefühl, dass es nichts gab, was du lieber wolltest, als in meinen Armen zu weinen, aber dein Stolz oder was auch immer hinderte dich daran.
Wie an so vielem dein Stolz schuld war.
Seit ich dich kannte, warst du immer ein sensibler Mensch.
Vielleicht verstanden wir uns deswegen auf Anhieb so gut miteinander... wir alle. Denn Castiel war ja auch ein Teil unseres Teams.
Ich zog sensible Menschen an wie das Licht die Motten.
Du wurdest oft von Mitschülern geärgert oder gar gemobbt, weil du eben so bist wie du bist. Doch schon damals war es so, dass du lieber still geblieben bist, die Sachen geschluckt hast anstatt einmal laut zu werden und denen zu sagen, dass sie sich zum Teufel scheren sollen.
Ich dachte immer, dass wenigstens ich deine wahre Natur kannte, aber offenbar war dem nicht so.
Denn sonst hätte es mich nicht so überrascht und aus der Bahn geworfen.
Ich hatte angenommen, dass du eine Trotzphase durchmachen würdest als Reaktion auf deinen Stiefvater, der dich immer bevormundete und dir Sachen verbot, die dir wichtig waren. Ich hatte gedacht, es würde sich irgendwann legen und dann würde alles wieder wie früher werden. Wir würden wieder lachen und Dummheiten machen und einfach genießen, dass wir einander hatten.
Ich hatte gehofft, dir irgendwann einmal sagen zu können, dass du für mich ein besonderes Mädchen bist.
Wie naiv ich doch war!
Denn anstatt dass es besser wurde, wurdest du immer schlimmer.
Deine Launen waren wie eine Achterbahnfahrt. In der einen Sekunde warst du super drauf, hingst an meinem Hals und wolltest nur Spaß haben und an nichts denken und in der nächsten hast du mich weggestoßen und geheult oder geschmollt oder Streit gesucht.
Ich wollte das alles ertragen. Für dich.
Um dir zu zeigen, dass ich für dich da war. Aber du hast es mir nicht leicht gemacht.
Denn wie gesagt, für mich warst du nicht nur irgendeine Freundin.
Ich hatte gehofft, gebetet, gewartet auf den Tag, an dem ich dich zu MEINER Freundin machen könnte.
Deswegen wollte ich mich nicht einfach von dir abwenden, wenn du doch offenbar Probleme hattest. Castiel hatte mehrfach gemeint, ich solle auf Abstand gehen, bis du wieder normal wärst, denn dein Verhalten würde mir genauso schaden wie dir.
Er hatte Recht. Aber ich wollte es eben nicht.
Denn ich war nicht nur naiv, sondern auch stur.
Doch jede Geduld hatte Grenzen. Und das war es, was ich am meisten an mir hasste.
Ich hatte einmal, nur ein einziges Mal die Schnauze voll von deinen Eskapaden und das hätte beinahe alles zerstört.
Du weißt es sicher noch?
Vielleicht war ich zu weit gegangen, aber ich hatte konnte einfach nicht mehr.
Deine Launen hatten mich zermürbt und unsicher werden lassen.
Was sollte ich darunter verstehen, wenn du mich in der einen Sekunde bittest, bei dir zu sein und dich in den Arm zu nehmen und in der anderen wolltest du alleine sein?!
Meine Sehnsucht nach dir wuchs mit jedem Tag, den du dich mehr verändertest und dich mehr von mir entferntest.
Und an diesem verdammten Tag platzte mir der Kragen.
Es war mitten in der Nacht, schon nach 11, als du mich angerufen hast. Ich weiß noch wie heute, dass du geheult hast und ich dich kaum verstanden habe. Trotzdem kam ich vorbei.
Weil ich dein Freund war.
Und immer für dich da.
Du hast wie ein Häufchen auf der Veranda gesessen, in ein Sweatshirt gehüllt, dass dir drei Nummern zu groß war. Deine Augen waren verheult und dein Haar zerzaust.
Als ich mich neben dich setzte, hast du dich an mich gedrückt und deine Nase an meinen Hals gepresst.
Das war schön und verzeih mir, aber ich hatte mich danach gesehnt.
Es war egoistisch und selbstsüchtig von mir, aber ich wollte in diesem Moment einfach nicht nur der Typ sein, bei dem du dich ausweinen und den du dann wegschicken konntest. Ich wollte, dass du in mir mehr siehst als das.
Deswegen gab ich dem Drang nach, den ich so lange in mir verborgen gehalten hatte.
Deswegen küsste ich dich.
Ich wollte dich nicht kränken, beleidigen oder bedrängen.
Doch deine Reaktion war so was von gar nicht das, was ich erhofft hatte.
Du hast mich weggeschubst, bist aufgesprungen und hast mich angesehen wie einen Triebtäter.
Das tat weh.
„Spinnst du? Was soll denn der Scheiß?"
„Entschuldige bitte..."
„Entschuldige bitte? Ich brauche jemanden, der für mich da ist und du hast nichts Besseres zu tun, als mich anzumachen?! Wie arm ist das denn bitte?"
Ich spürte, wie der Zorn in mir aufkam.
„Dafür bin ich gut? Damit du deine Launen an mir auslassen kannst? Einmal klammerst du, dass ich fast keine Luft mehr kriege, in der nächsten Sekunde schubst du mich weg und trittst mich mit Füßen. Wenn ich mit dir reden will, schreist du mich an, aber du erwartest, dass ich weiß, wie du dich fühlst?"
Ich stand auf und wir standen einander damals wie Kämpfer gegenüber.
Ein Gedanke, der mich immer noch traurig macht.
„Soll ich dir mal was sagen? Seit du so komisch bist, habe ich mich nicht ein einziges Mal beschwert. Ich war immer da, war geduldig und habe dich in Ruhe gelassen, wenn du das wolltest. Ich habe immer nur an dich gedacht und an deine Gefühle. Aber ist es zuviel verlangt, wenn ich erwarte, dass ich auch ein bisschen zurückbekomme?"
Du hast verächtlich gelacht, ich höre es noch, als wäre es soeben passiert.
„Und was soll das sein, Lysander? Soll ich dich mal über mich drüberrutschen lassen, als kleine Bezahlung für deine Dienste, oder wie soll das aussehen? Ich dachte, du wärst mein Freund, aber ich hätte wissen müssen, dass du eine Gegenleistung willst..."
Ich war so wütend wie noch nie zuvor in meinem Leben, als ich deine Worte hörte.
„Dir ist doch nicht mehr zu helfen. Ich frage mich allen Ernstes, ob wir jemals richtige Freunde waren, denn du so von mir denkst. Klar bin ich dein Freund, aber ich habe nicht verdient, von dir wie ein Fußabtreter behandelt zu werden. Der Kuss tut mir leid. Überhaupt tut es mir leid, dir zu nahe gekommen zu sein. Die anderen haben Recht. Du bist nicht gut für mich. Wenn du dich selber kaputtmachen willst, bitte. Aber zieh mich nicht mit in deinen Abgrund!"
Deinen Blick werde ich nie vergessen, aber ich konnte mich nicht bremsen.
So lange hatte sich all das angestaut. Meine ganze Frustration über meine unerfüllte Liebe zu dir, dein Verhalten, das mich an mir zweifeln ließ, die Zurückweisungen.
„Die anderen sagen dir also jetzt, was gut ist?"
„Nein! Das habe ich schon selber gemerkt. Ich weiß nicht, was dein Problem ist. Du sagst mir ja nichts. Ich darf immer nur da sein, wenn du heulst und muss deine Aggressionen ertragen, weil du nicht getröstet werden willst. Dafür bin ich gut genug, aber nicht, um mir deine Probleme anzuhören. Und darauf habe ich keinen Bock mehr. Wenn du mir nicht vertraust, dann lass es. Dann komm aber auch nicht mehr bei mir an. Ich kann das nämlich auch nicht mehr..."
Ich nahm meine Tasche wieder vom Boden und wandte mich von dir ab.
„Denk mal drüber nach. Freundschaft ist ein Geben und Nehmen. Schönes Leben noch."
Und ich bin einfach gegangen.
Hätte ich damals gewusst, was mein Handeln für Folgen hatte, hätte ich mich zusammengerissen, mich für den Kuss entschuldigt und es einfach gut sein lassen.
Aber ich kann ja nicht in die Zukunft sehen.

Kleine Worte [AS]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt