Aus der Masse heraus [GL]

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... Mädchenküsserin, Mädchenküsserin! ... Iieh, wie kann man denn sowas machen? ... Das ist ja total eklig! ... Nicht auf Jungs zu stehen ist total krank! ... Lesbe! ... Mit sowas kann man doch nicht befreundet sein!

Der Morgen graute und Amber setzte sich auf. Mit einem leisen Murren wischte sie sich die strohblonden Haare aus der Stirn und merkte, dass ihre Hände zitterten.
Nach der ganzen Zeit träumte sie noch immer davon?
Hatte sie nicht in den letzten Jahren bewiesen, dass sie keine Mädchenküsserin war?
Sie stand auf und streckte sich. Es war Montag und sie hatte keine Lust. Auf dem Weg ins Bad hörte sie aus dem Zimmer ihres Bruders bereits leise Musik.
Er und diese Klassik, das kann ja keiner ertragen! Und der schien auch nie zu schlafen. Immer war er schon Stunden wach, wenn sie gerade aus dem Bett fiel.
Sie lächelte. Sie zeigte es nicht gern, aber sie mochte ihren Bruder total. Er war ein nerdiger Streber, aber man konnte sich immer auf ihn verlassen.
Und Amber machte es ihm gewiss nicht leicht.
Nach einer Dusche, der Morgentoilette und ihrem Beautyprogramm konnte sie in den Tag starten.
Immer noch genervt, weil Montag war, setzte sie sich an den Frühstückstisch und suchte mit gerümpfter Nase nach etwas, das kein  Fett enthielt, aber sie fand nichts. Ihre Mutter legte ihr eine Scheibe Schwarzbrot auf den Teller.
„Guck nicht so. Du musst was essen und wirst nicht gleich fett davon!"
„Bah, Mama... dieses Zeug ist alles schlecht für meine Haut!" nörgelte Amber.
„Dann hungere. Das ist gutes und frisches Essen. Was Besseres wirst du nicht finden. Aber wer nicht will, der hat schon."
Nathaniel, ihr Bruder, setzte sich ebenfalls und bediente sich an dem frischen Brot.
Amber sah ihm zu. Er war so dünn und konnte essen, was er wollte. Er hatte auch total reine Haut, während sie bei jedem Bisschen einen Atompilz von Pickel bekam!
Das war ungerecht! Warum war sie nicht auch ein Junge?
Richtig... ihr würden Mode, Klamotten, Schuhe und Makeup zu sehr fehlen.
Nörgelig zerbröselte sie das Brot und aß ein paar Bissen, während sie Wasser trank. Nathaniel hingegen schob sich drei Schnitten mit Marmelade und Frischkäse zwischen die weißen Zähne.
„Los, ab jetzt. Ihr wollt doch nicht bei eurem aufregenden Tag zu spät kommen."
„Ich komme nie zu spät, Mutter." prahlte Nathaniel, zog seine dünne Jacke an und zog Amber hinter sich her zum Bus.
„Hast du dich schon um einen Platz bemüht?"
„Hää?"
„Amber! Ab Mittwoch sind die Praktikumswochen. Du solltest dir einen Praktikumsplatz suchen!" Nathaniel klang immer so nach Oberlehrer.
„Achso... ja, hab ich schon. Ich hab eine Email geschrieben und Freitag, als ich beim Nägelmachen war, habe ich noch mal nachgefragt. Ich kann das Praktikum bei Ledoux  machen."
Ihr Bruder sah sie etwas verdutzt an. Er war es nicht gewöhnt, dass sich seine Schwester allein um etwas kümmerte. Meistens machte er das.
„Und wo machst du?"
„Bei Vater in der Kanzlei. Sein Kollege, der Strafrechtsanwalt, lässt mich ein bisschen mitmachen und nimmt mich mit in Gerichtsverhandlungen."
„Laaaaaaaaaaaaaangweilig!"
„Aber Nägelmachen ist besser, oder was?"
Amber nickte und grinste noch immer, als der Bus einfuhr und sie sich neben ihre Freundinnen setzte.

Mittwoch war es also soweit.
Das Praktikum sollte beginnen und Amber war zum ersten Mal seit langem echt aufgeregt. Sie stand – unüblich für sie – bereits um 5 Uhr auf, obwohl sie erst um 9 anfangen musste. Sie duschte ausgiebig, machte sich besondere Mühe mit ihren Haaren, denn sie wusste, im Job einer Nageldesignerin mussten nicht nur die Fingernägel 1 A aussehen und frühstückte zur Abwechslung mal einen Toast mit Marmelade und eine Schüssel fettarmer Cornflakes. Ihre Mutter bestand darauf, da sie während der Arbeitszeit nicht essen konnte und sie nicht so viele Pausen hatte wie in der Schule.
Amber gehörte eigentlich nicht zu den Mädchen, die gern arbeiteten oder selber etwas leisteten. Sie ließ sich lieber verwöhnen und würde am liebsten für immer von Beruf Tochter sein, aber Nageldesign war das Einzige, wo sie eine Ausnahme machte. Das interessierte sie wirklich.
Um 8 machte sie sich bereit, um das Haus zu verlassen.
Nathaniel und ihr Vater waren schon vor einer Weile gefahren.
„Ich hab dir ein paar Cracker und Obst eingepackt, damit du nachher was zu essen hast. Und ein bisschen Geld, falls du dir lieber etwas kaufen möchtest."
Amber nickte. Sie war aufgeregt. Aber irgendwie nervte es sie auch, dass die Schule Praktika veranstaltete.
Sie war in der 10. Klasse.
Machte man sowas nicht normalerweise in der Achten? Ihre Direktorin hatte das bei ihnen scheinbar versäumt.
Obwohl es sie interessierte, nervte sie auch, dass sie nun zwei Wochen den Hiwi machen sollte und keine Kohle dafür bekam.
Aber sie nahm sich vor, sich zusammenzureißen, denn Ledoux war ihr Lieblingsladen und die machten einfach die besten Nägel der Stadt. Es gab im Nebenraum auch ein Tattoostudio, aber da war sie noch nie drin. Amber fürchtete sich vor Nadeln und betreten durfte man den Raum nur, wenn man sich tätowieren lassen wollte. Wegen der Hygiene und so.
Die Leute dadrin sah man nur, wenn die mal zur Kaffeemaschine gingen, zur Toilette oder Feierabend machten. Es waren zwei Tätowierer. Ein großer stämmiger Kerl mit Glatze, selber tätowiert wie eine Leinwand und ein junges Mädel mit einem Phoenix auf dem Oberarm, der sich auf die Schulter weiterschlängelte.
Amber erinnerte sich, dass sie fasziniert war, als sie dieses Mädchen das erste Mal gesehen hatte.
Mädchenküsserin...
Sie schüttelte den Kopf.
Das würde ihr nie, niemals wieder passieren!

Kleine Worte [AS]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt