Schulterengel Plagegeist

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Als mein Wecker klingelte, warf ich mein Lieblingskissen nach dem Ding und rollte mich in meiner Decke ein.
Schon wieder Montag. Schon wieder ein Tag, an dem ich mich wahrscheinlich bis auf die Knochen blamieren würde, an dem alle darüber lachten, wie ungeschickt die komische Ophi war, die irgendwie eine Schraube locker zu haben schien und die alle mieden, soweit es möglich war.
Ich seufzte.
Und dabei hieß es doch immer, dass Kinder aus reichen Familien so beliebt seien.
Pusteblume - oder hieß das Pustekuchen? Ist ja egal...
Ich streckte mich genüßlich und wollte seufzen, doch daraus wurde eher ein ersticktes Quieken, weil ich zu nah an den Bettrand kam.
Mit einem lauten Poltern landete ich auf dem Teppich vor meinem Bett und jaulte.
»Verdammter Mist.« Wackelig richtete ich mich auf und strich meine blau gefärbten Haare aus dem Gesicht.
»Sie ist aber auch ein Trottel... dabei hat der Tag gerade erst angefangen...«
»Es hilft ihr nicht, wenn du immer gleich vom Leder ziehst!«
Ich weigerte mich, auf das zu reagieren, was meine Ohren da hörten. Diese Stimmen waren nicht echt! Stattdessen rieb ich mir den Hinterkopf.
Ich schlüpfte in meinem angrenzenden Badezimmer unter die Dusche und schaffte es, einigermaßen blessurfrei dabei wegzukommen. Beim Weg zum Kleiderschrank allerdings stieß ich mir den großen Zeh an meinem Bett und hüpfte wie eine Hexe herum.
»Hahahahahahaha...«
»H-Hör auf zu lachen... D-das tat... haha... das tat doch weh!«
»Haltet eure Klappe, verdammt!«, verlor ich die Nerven und funkelte wutentbrannt zu meinem Nachttisch.
Ich hatte vor einigen Wochen einen Unfall mit dem Fahrrad. Ich war schwer mit dem Kopf aufgeschlagen und lag einige Zeit im Krankenhaus deswegen. Laut den Ärzten war alles wieder in Ordnung. Aber denen hatte ich auch nicht erzählt, was meine Augen seither sahen.
Was hätte ich denen auch sagen sollen...?
Das mir seitdem zwei etwa 10-15 Zentimeter große Figuren auf Schritt und Tritt folgten, die nie die Klappe hielten? Die immer an meiner Seite waren, mal verschwanden, um an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen, aber die meiste Zeit auf meiner Schulter saßen? Die ich runterschubsen konnte, so oft ich wollte, die dann aber einfach in der Luft hängen blieben?
Ich hatte bei Filmen immer über diese Art der Darstellung des Gewissens gelacht. Schulterengel... Engelchen und Teufelchen?
Das ich nicht lache...
Aber tja, was soll ich sagen? Ich war seit dem Unglück in dem Genuss der Gesellschaft zweier - ich nenne sie Personen - und die beiden waren eindeutig Engelchen und Teufelchen.
Im Moment saßen sie auf meinem Nachttisch und sahen sich verdutzt an, weil ich so laut geworden war.
»Aber, aber... immer mit der Ruhe, Schneckchen.«, lachte das Kerlchen, das aussah wie ein kleiner Rocker mit Dämonenflügeln. Er sah hübsch aus und wenn er kein Plagegeist im Barbieformat wäre, hätte ich Gefallen an ihm finden können. Er nannte sich selbst Castiel.
Ich empfand es als komisch, dass ein Teufelchen den Namen eines Engels trug, aber er war meine Halluzination, da durfte er heißen, wie er wollte!
»Ich muss mich für seine Frechheiten entschuldigen.«, mischte sich das zweite Kerlchen ein, der dem anderen nicht unähnlicher sein konnte. Er war blond und hatte fluffige, weiße Flügelchen. Er war angezogen wie ein Streber, mit einer hellen Hose, einem Hemd und einem hellblauen Pullunder. Er war niedlich, ihn könnte ich fast mögen, wenn er nicht genauso eine Halluzination wäre wie der kleine Castiel. Er nannte sich selbst Nathaniel, auch ein Engelsname und er war eindeutig mehr einer als der andere.
Trotzdem war es extrem belastend für meine Nerven, dass diese Quälgeister immer dann auftauchten, wenn ich es gerade gar nicht gebrauchen konnte.
»Warum entschuldigen? Was kann ich denn dafür, dass sie ständig alles umrammelt und ich dann lachen muss? Soviel Spaß hatten wir unten nicht.« Castiel verschränkte die Ärmchen vor seiner Brust und zog eine Schnute. Er behauptete gern, aus der Hölle zu kommen und nur bei ihr zu sein, damit er seinen „Schein" für einen vollwertigen Dämon machen konnte. Ebenso sollte es bei Nathaniel sein. Er war ein „Engel in Ausbildung", wie er sagte.
Ich hatte schon oft, seit ich die beiden sehen konnte, das Bedürfnis, meinem Kopf für meine Fantasie ein Lob auszusprechen, aber das hielt ich für nicht angebracht.
Ich hatte seit dem Aufprall einen Knall.
Anders konnte ich das nicht sagen. Sogar meine Eltern bemerkten schon, dass ich mit mir selbst zu reden schien. Natürlich sprach ich in Wahrheit mit meinen Begleitern, aber mir wurde von ihnen glaubhaft versichert und demonstriert, dass nur ich sie sehen konnte.
Der kleine Nathaniel seufzte und schüttelte sein blondes Köpfchen, während Castiel noch immer kicherte.
Würden sie nicht so nerven, würde ich sie einfach liebhaben.
Denn sie waren schon ein bisschen auch meine Freunde. Auf eine krasse, kranke und abgefahrene Art und Weise mochte ich sie.
Ich rieb mir den Zeh und öffnete meinen Kleiderschrank.
»Dreht euch gefälligst um, wenn ich mich anziehe, klar?«, murmelte ich und warf ein Shirt und eine Jeans auf mein Bett.
Nathaniel verpuffte mit einem leisen Geräusch, während Castiel mit seinen roten Haarsträhnen spielte und grinsend sitzenblieb.
»Darf ich bitten, Freundchen?«
»Warum denn? Ich bin ein Dämon und du hast keine Titten. Was sollte ich dir also abgucken?«
Ich knurrte. »Du existierst nur in meinem Kopf, also mach gefälligst, was ich dir sage.«
»Dann hast du Nuss nicht mal deinen Kopf unter Kontrolle, aber bitte. Bei dir gibt es eh nichts zu sehen, Schneewittchen ohne Tittchen.«
Auch er verschwand in einem dunklen Rauchwölkchen und ich zog mich an.
Vorerst hatte ich Ruhe, aber sie liebten es, mit mir in die Schule zu gehen oder herumzuhüpfen, wenn ich mit meiner Familie beim Essen saß. Castiel neigte dazu, Kaffee zu verspritzen oder Sachen umzuwerfen und Nathaniel war eine Naschkatze, der besonders Frischkäsebrötchen liebte. Er hinterließ Fußabdrücke im Käse, wenn er mit seinem ganzen Körper drin saß und mit vollen Händen aß.
Von wegen Engel!
Seufzend band ich meine blauen Haare zusammen, schlüpfte in meine Schuhe und ging die Treppe runter. Meine Mutter hatte bereits gerufen. Schon am Treppenaufgang konnte ich die Fledermausflügel von Castiel sehen, der mit einem Lachen am Geländer herunter rutschte. Nathaniel hüpfte die Stufen runter, was ihm Freude zu bereiten schien.
Die beiden waren Kindsköpfe. Es musste aufregend sein, als winzige, püppchengroße Zwerge in einer Umgebung für Riesen zu sein. Und wie schon gesagt, besonders das Essen hatte es ihnen angetan.
Ich schüttelte den Kopf und verdrängte diese Gedanken. Sie waren Halluzinationen, was sollte es mich kümmern, was ihnen Freude machte und was nicht?
Nur ich konnte sie sehen, hören und sie waren erst seit meinem Sturz da. Ich war bekloppt und sie waren der Ausdruck meines Wahns. Mein Unterbewusstsein musste dafür verantwortlich sein, dass ich sie so niedlich habe werden lassen.
»Ophelia, du kommst wie immer auf den letzten Drücker. Du weißt, das Herbert auch noch deine Schwester zur Schule fahren muss, oder?«
Ich verzog den Mund und nahm Platz.
Sicher, meine perfekte kleine Schwester Aurelia, die nie etwas tat, was aus der Reihe tanzte, die anzog, was meine Mutter ihr hinlegte, die keine Probleme in der Schule machte, die grazil und anmutig war, nicht stolperte, sich stieß oder unflätige Worte benutzte, wenn sie sich wehtat.
Und die auch keine niedlichen kleinen, aber verrückten und nervtötenden Plagegeister, Verzeihung, Schulterengel hatte, die mit ihren frechen Ideen eigentlich alles nur noch schlimmer machten.
Castiel landete auf meiner Schulter und hielt sich an meinem Ohrläppchen fest, als er seinen Blick über den Tisch schweifen ließ.
»Deine Mutter ist ein Gesundheitsfreak... habt ihr keine gebackenen Maden?«, brummelte er und landete sanft auf meinem Teller. Ich hätte beinahe losgelacht, als er an einem Salatblatt roch und so tat, als würde er sich in den Salat meiner Schwester erbrechen.
Nathaniel flatterte neben mir auf den Tisch und tippte mir auf die Hand.
»Schmierst du mir ein Frischkäsebrötchen?«, fragte er und seine niedlichen goldenen Augen ließen gar keinen Widerspruch zu. Ich zog den Frischkäse an mich heran und öffnete den Deckel. Ich hatte keinen Hunger darauf, aber wenn der Becher geschlossen war, würde er ihn allein nicht aufbekommen.
Mal abgesehen davon, dass es sicherlich komisch wäre, wenn der Becher sich plötzlich von alleine bewegen würde. Denn auch wenn ich fest davon überzeugt war, dass ich mir meine Engelchen nur einbildete, waren sie doch in der Lage, Gegenstände zu bewegen.
Ich erinnerte mich an den ersten Tag, als ich sie sah. Castiel, der beleidigt war, weil ich ihn als Hirngespinst bezeichnet hatte, hatte in der Schule ein Stück Kreide ergriffen und ein ziemlich anstößiges Bild an die Tafel gemalt, das er mit seinem Namen signiert hatte.
Also würde ich sagen, entweder beherrschte ich seit meinem Fahrradsturz Telekinese oder ich hatte Blackouts.
Jedenfalls tat ich alles, um meine Plagegeister davon abzuhalten, Gegenstände fliegen zu lassen.
Was nicht immer funktionierte, wie ihr euch vorstellen könnt.
Eines Morgens stand meine Schwester auf und rannte heulend zu meiner Mutter, weil ihr jemand in der Nacht die Haare verknotet hatte. Ich konnte an Castiels Grinsen und Nathaniels knallrotem Gesicht deutlich ablesen, was geschehen war.
Dennoch war ich ihnen nicht böse, denn Nathaniel meinte, Castiel hätte das gemacht, weil Aurelia mich am Abend zuvor dummgemacht hätte. Also war diese Rache stellvertretend für mich.
Und das fand ich wiederum süß.
Mit einem Schmunzeln beobachtete ich mein blondes Engelchen, wie er mit schüchternen Fingern immer wieder in den Becher fasste und seinen ganzen Mund bereits mit Frischkäse verschmiert hatte. Castiel saß im Schneidersitz auf dem Marmeladenglas und kaute an etwas Teig, den er aus meinem Brötchen gezupft hatte.
Meine Mutter und meine Schwester bemerkten meine Begleiter natürlich nicht und beschäftigten sich mit allmorgendlichem Geplänkel.
»Oh Mama, können wir heute Nachmittag bitte in den Shop gehen? Ich habe da so ein paar tolle Schuhe gesehen und Leigh meinte, er hätte sie noch in meiner Lieblingsfarbe.«
Ich verdrehte leicht die Augen, als ich mein Brötchen schmierte.
Ich hasste es, wenn meine Schwester von dem Boutiquebesitzer in unseren Viertel sprach, als würde sie ihn kennen. Aber noch viel mehr nervte es mich, wenn sie das von Lysander tat, seinem jüngeren Bruder. Und das nur, weil sie ihn hin und wieder in dem Laden sah, wo er ein bisschen aushalf.
Ich hingegen ging mit Lysander zur Schule, sogar in eine Klasse.
Er war toll, was sollte ich um den heißen Brei herumreden. Aber er war er und ich war eben ich.
Introvertiert, tollpatschig, nicht die Hübscheste, nicht die Schlauste und absolut unkreativ. Ok, ich konnte Klavier spielen, aber auch nur, weil meine Eltern das unbedingt wollten und ich spielte Handball, weil das komischerweise das Einzige war, wo ich mich nicht wie ein Trottel aufführte.
Castiels Blick ging zwischen meiner Mutter und meiner Schwester hin und her.
»Deine Schwester sollte sich ein neues Gehirn kaufen und keine Schuhe...«
Ich musste mir das Lachen verkneifen und prustete, woraufhin meine Mutter mich ansah.
»Was war das denn jetzt?«, fragte sie mit hochgezogener Braue.
»Nichts... ich habe mich verschluckt... Ich glaube, wir sollten dann langsam, oder, Lia?«
Meine Schwester machte eine genervte Handbewegung und ich konnte Castiel gerade noch mit einem Griff davon abhalten, ihr ihren Orangensaft über den Schoß zu kippen. Nathaniel blickte beinahe sehnsüchtig in den Frischkäsebecher, seufzte und wischte sich schließlich den Mund an einer Serviettenecke des Brotkorbes ab.
»Komm jetzt, sonst bin nicht ich Schuld, wenn Madam zu spät kommt.«
»Jaja... geh mir nicht auf die Nerven. Ich geh noch mal aufs Klo. Du kannst ja solange noch eine Runde mit dir selber reden, du Irre.«
Ich biss mir auf die Lippen und verkniff mir eine Bemerkung. Dass ich scheinbar mit mir selber redete, seit meine Begleiter da waren, war mir schließlich auch nicht entgangen. Und das andere mein Gerede hörten, auch nicht.
Castiel machte eine sehr unschöne Geste mit der Hand und Nathaniel sah ebenfalls nicht sehr nett aus.
Ich konnte von meinen Halluzinationen denken und sagen, was ich wollte, aber sie waren mir gegenüber loyal.
Nathaniel machte einen Hüpfer, verpuffte und tauchte auf meiner Schulter wieder auf.
»Deine Schwester hat sehr schlechte Manieren.«, nuschelte er und mich streifte der süße Hauch, der ihn immer umgab. Er roch wie ein Marshmallow.
»Wem sagst du das«, murmelte ich unbewusst und meine Mutter sah mich an.
»Was hast du gesagt?«, fragte sie und verzog den Mund. Seit ich den Unfall hatte, dachte sie ebenfalls, ich hätte einen Knall.
Klar, ich hatte ja vorher auch nie scheinbar mit mir selbst geredet.
Ich erhob mich und winkte ab.
»Nichts, ich hab nur laut gedacht. Ich komme gleich, ich hole nur schnell meine Tasche.«
Meine Mutter stellte das Geschirr zusammen und nickte nur.
Castiels leises „Poff!" hörte nur ich und in der nächsten Sekunde saß auch er auf meiner Schulter und hielt sich mit seiner kleinen Hand an meinem Ohrring fest.
»Wenn ich ein richtiger Dämon bin, schleppe ich deine Schwester in die Hölle und foltere sie. Ist das ok für dich?« Sein Duft war eher würzig, wie warme Holzkohle. Wie ein Höllendämon eben.
Ich lachte leise über seinen Kommentar und griff in meinem Zimmer nach meinem Rucksack.
»Hörst du schon wieder Stimmen, Schizo? Oder warum lachst du?«
Ich blickte meine jüngere Schwester, die wie eine Barbiepuppe aussah, an und kicherte.
»Ich überlege nur gerade, grüne Tinte in dein Duschgel zu kippen. Wäre bestimmt lustig. Du kleine Zicke.«
Aurelia schnaubte und schob sich an mir vorbei. Castiel schnappte nach einer ihrer Locken und zog mit aller Kraft daran.
»AUA!!! Mama, Ophelia zieht mir an den Haaren!«, kreischte sie. Meine Mutter kam mit einem vorwurfsvollen Blick in den Flur.
»Ophelia, wie alt bist du?«
»Sie ist an meinem Rucksack hängen geblieben! Da kann ich doch nichts für!«
Meine Mutter seufzte und wandte sich ab.
»Bewegt euch, sonst kommt ihr zu spät. Ich hab gerade keinen Nerv für euer Theater.«

Kleine Worte [AS]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt