Kapitel 6

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Ice

Nachdenklich starre ich auf die Hand, die den schwarzen Kopf des Hundes streichelt. Ich sehe Sam an, der im Türrahmen zur Küche steht und uns misstrauisch beobachtet, und spüre wieder diese Wut in meinem Magen, diesen tiefgehenden Hass, diese rastlose Unruhe. Sherwood hat unsere Mutter vor seinen Augen getötet, wollte ihm damit eine Lektion erteilen. Sherwood ist ein skrupelloser, gewissenloser Anführer und Mörder. Sein Mittel, um seine Gesetze und Regeln durchzusetzen, sind seine Soldaten und seine Grausamkeit. Soldaten wie ich einer war. Ich habe das alles jahrelang mitgetragen, weil ich in ihm den einzigen Vater gesehen habe, den ich noch hatte. Den Präsidenten der Wölfe, der nicht nur anführt, sondern auch bestimmt, wie wir zu leben haben und wer wir sind. Er war mein Präs. Sein Wort war für mich Gesetz.

Sam und ich sind unter seiner Herrschaft aufgewachsen. Ich gebe es nicht gerne zu, aber als unsere Mutter sich Sherwood angeschlossen hat, hat sie nicht nur unseren Vater verraten, sie hat auch ihre Kinder verraten. Die ganze Familie. Ich sollte sie deswegen hassen, zumindest wütend sein. Aber ich kann es nicht, sie ist unsere Mutter. Und ich habe zu lange selbst nicht gemerkt, dass das Leben, das wir geführt haben, falsch ist. Ich kannte kein anderes. Und ich wollte Sherwood stolz machen, wollte sein Sohn sein. Habe vieles ignoriert und weggesehen. Und irgendwie blieb meiner Mutter auch kaum eine andere Wahl. Wohin hätte sie gehen sollen, nachdem alles zerstört war? Sie wollte uns schützen, indem sie sich mit uns dem Leben auf der Farm angeschlossen hat. Sam war noch so klein und ich noch nicht einmal ein Teenager, als das Leben, wie wir es kannten, mit dem Tod unseres Vaters geendet war. Genau wie sie habe ich mich dem neuen Leben nur zu gern angeschlossen.

Erst der Mord an meiner Mutter hat mich wachgerüttelt. Es hat zu lange gedauert, den Clan zu verlassen. Es hatte erst den Tod meiner Mutter gebraucht, um die Kraft zu finden, Sam und mich dort rauszuholen. Unsere Mutter war wegen einer einzigen Pille gestorben, die Sam gestohlen hatte, statt sie an die Abtrünnigen zu verteilen. Aber Ungehorsam ist das schlimmste Vergehen, das Sherwood kennt. Ein Clanmitglied hat immer gehorsam zu sein.

Ich mustere Raven, die ihre Hand in Sultans Fell vergraben hat, wahrscheinlich lauert sie auf eine Gelegenheit zur Flucht. Sie hat ja keine Ahnung, wie leicht es für mich wäre, ihr zu folgen.

Ich will, dass Sam wieder leben darf. Ohne Angst vor dem Tod. Er ist ein Kind, auf das ein verdammtes Kopfgeld ausgesetzt ist. Jeder, der sich irgendwie in unserer Welt bewegt, ist hinter ihm her. Bevor er nicht sicher ist, werde ich nicht mehr atmen können. Also ja, zumindest ein Teil von mir hofft, dass Raven uns retten kann. Der andere Teil hofft, dass sie mir irgendwann verzeihen kann.

Es klopft an der Tür. Dreimal schnell hintereinander, dann zwei weitere Male und noch mal. Unser Zeichen dafür, dass jemand vor der Tür steht, dem wir vertrauen können. Ich stehe langsam vom Sofa auf und schaue durch die schmalen Scheiben neben der Tür, um sicherzugehen, dass auch wirklich niemand anders draußen lauert. Erst dann öffne ich, die Waffe in der freien Hand, den Finger am Abzug. Sherwood hat mich gelehrt, immer vorbereitet zu sein.

»Sheriff«, sage ich zu Will, lasse meinen Blick über ihn gleiten, um abzuschätzen, ob seine Haltung verkrampft wirkt oder sonst irgendwie den Verdacht erwecken könnte, dass er die Seiten gewechselt hat. Er lächelt nicht, sieht nicht zornig aus und wirkt auch sonst nicht, als plane er gerade einen Mord. In seinen Armen hält er eine Papiertüte, aus der oben ein Netz mit hellgrünen Äpfeln herausquillt. Ich trete von der Tür weg. »Komm rein.«

Der Sheriff schiebt sich an mir vorbei, ich werfe einen Blick vor die Tür, wo sein Dienstwagen parkt. Eigentlich müsste ich mir deswegen Gedanken machen, denn ein Polizeiauto vor der Tür zieht immer Aufmerksamkeit auf sich. Die Nachbarn fragen sich dann, was man verbrochen hat. Aber hier gibt es keine Nachbarn. Dieses ehemalige kleine Farmhaus ist so weit weg von allem anderen, dass es Wasser aus einem Brunnen bezieht und nicht einmal am öffentlichen Versorgungsnetz für Elektrizität angeschlossen ist.

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