Kapitel 13

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Raven

Als ich etwa sieben Jahre alt war, habe ich einmal gesehen, wie die Schulschwester sich um einen Jungen gekümmert hat, der sich sein Knie aufgeschlagen hatte. Nicht viel später habe ich fasziniert zugesehen, wie sie anhand einer Puppe Erste-Hilfe-Maßnahmen erklärt hat. Damals wollte ich selbst auch noch Krankenschwester werden. Aber nachdem ich ein paar Mal Erbrochenes meiner Mutter wegputzen musste, fand ich diesen Beruf doch nicht mehr so erstrebenswert. Ich wünschte, ich hätte meine Meinung nicht geändert, dann wüsste ich jetzt vielleicht, was ich tun könnte, um es Ice leichter zu machen.

Nachdem ich mich um seine Wunden gekümmert habe, lege ich mich zu ihm auf die Matratze. Die schlimmsten Verletzungen habe ich mit Mull abgedeckt. Ich habe das Silber aus den Wunden gewaschen und sie mit Jod versorgt. Ich weiß eigentlich überhaupt nichts darüber, wie ein Mensch versorgt wird, der so übel zugerichtet wurde, weswegen sich meine Angst um Ice auch gar nicht gelegt hat, seit ich zu ihm in die Zelle gekommen bin. Im Gegenteil, er ist seit Stunden nicht mehr wach geworden. Nicht einmal, während ich mich um seine Verletzungen gekümmert habe, was bestimmt sehr schmerzhaft gewesen ist. Deswegen war ich bis jetzt froh, dass er davon nichts mitbekommen hat. Mit jeder Sekunde, in der er nicht zu sich kommt, wächst der Knoten in meinem Magen an. Und ich würde Ice so gerne streicheln, ihn halten und ihn spüren lassen, dass ich da bin. Aber ich wage nicht, ihn noch weiter zu berühren, um ihm nicht länger wehzutun.

Erschöpft starre ich zu den Gittern über mir auf und versuche, meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Solange ich eine solche Angst empfinde, werde ich keinen klaren Gedanken fassen können. Aber ich muss nachdenken können, um mir etwas zu überlegen, dass uns hoffentlich retten wird. Ich stöhne innerlich auf und fahre mir durch die zerzausten Haare. Woher nehme ich nur den Glauben, irgendetwas tun zu können? Niemand wird jemals diese Käfige verlassen können, außer die Männer dort draußen erlauben es. Ich lehne meinen Kopf sachte gegen Ices Schulter und wünsche mir, dass er aufwacht. Ich habe mir noch nie so sehr gewünscht, die Stimme von jemandem zu hören. Ich habe mir auch noch niemals zuvor um jemanden solche Sorgen gemacht.

Ich küsse ihn auf seine Lippen, weil ein irrer Gedanke mir einredet, wenn das im Märchen funktioniert, wieso dann nicht im echten Leben. Es funktioniert nicht. Aber irgendetwas muss ich unbedingt tun. Jede Zelle meines Körpers fleht mich an, etwas zu tun. Ich fühle mich so hilflos und gleichzeitig so wütend, dass ich zerbersten könnte. Ich möchte meinem Vater ins Gesicht brüllen, möchte meine Klauen in seine Brust treiben. Und ich möchte ihn nie wieder meinen Vater nennen. Nicht einmal nur in meinen Gedanken. Dieser Mann ist nicht mein Vater. Und doch denke ich dieses Wort immer wieder. Es schleicht sich in meinen Kopf, obwohl ich längst verstanden habe, dass er nicht mein Vater ist. Aber er war es für so lange Zeit gewesen, auch wenn ich ihn gehasst habe. Auch wenn ich schon damals wusste, den Titel ›Vater‹ hat er eigentlich nicht verdient. Aber ich war ein Kind, als ich ihn zum ersten Mal so nannte. Alte Gewohnheiten legt man nicht so schnell ab.

Ich fahre mit meinen Fingern in mein Haar und zerre daran. In meinem Kopf kreist alles. So viele Gedanken und Gefühle stürmen auf mich ein, ich fühle mich ganz erschöpft. Ich muss aus meinem Kopf rauskommen, damit ich nicht den Verstand verliere. Ich muss mich konzentrieren. Ich muss für Ice da sein. Ice ist jetzt das Wichtigste. Nicht ich. Nicht Sherwood. Nicht meine Wut und Verzweiflung. Ich muss einen Weg finden, Ice zu helfen.

Wäre ich jetzt nicht hier, sondern in Black Falls, bevor das alles passiert ist und ich verstanden habe, was diese Dunkelheit in mir ist, hätte ich mich jetzt auf den Weg in den Wald gemacht oder ich wäre zu Nick gegangen, bis dieses fordernde Summen in mir in einer Explosion aus Schmerz und Erschöpfung verglüht wäre. Aber die Dunkelheit hat sich zusammen mit meiner Wölfin in eine Ecke meines Verstandes zurückgezogen. Die Unruhe, die ich jetzt fühle, entstammt meiner eigenen Angst um Ice.

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