Raven
»Ich weiß, was ich getan habe, macht mich zu eurem Feind. Aber diese Wölfin ist unschuldig. Und Sam ist noch ein Kind. Ihr könnt mich hassen, aber schützt sie. Ich werde Sherwood ablenken. Ich werde alles tun, um Sherwood von hier fernzuhalten. Wenn einer das kann, dann nur ich. Weil ich ihn kenne. Ich weiß wie er denkt, wie er handelt. Einfach alles. Weil er mein Vater ist«, verspricht Ice mit einer Verzweiflung in der Stimme, die mich schlucken lässt.
Ich drücke mich gegen seine Seite, erschüttert von dem Schmerz in seiner Stimme. Er steht hier vor seiner Familie, den Menschen, die er enttäuscht hat und die ihn für etwas hassen, das nicht seine Schuld ist, und fleht um mein Leben und das von Sam. Das fühlt sich nicht richtig an. Er sollte nicht flehen müssen. »Lass uns wieder gehen«, sage ich entschlossen. »Wir können auf uns aufpassen. Je länger wir hier sind und nichts tun, desto länger ist Sam allein dort draußen.«
Ice legt eine Hand über meine. Er sieht mich an, presst seine Lippen aufeinander und knickt ein. »Vielleicht ist es besser so.«
Jemand räuspert sich, als ich den Kopf wende, sehe ich White Horse, der uns beobachtet hat. »Die Frau bleibt hier und du gehst mit Eagle«, sagt sein Großvater und erhebt sich von der bunten Decke. Das Feuer in der Mitte zuckt wild, als er sich bewegt, als wolle es ihm mitteilen, dass es anderer Meinung ist. Aber der alte Mann ignoriert die Wut des Feuers. Und auch die in Eagles Blick. »Das wird eine lange Nacht«, sagt er an Eagle gerichtet und legt seine Hand auf dessen Schulter. »Ich verstehe deinen Zorn sehr gut, aber dort draußen ist ein Kind unseres Stammes allein. Deine Aufgabe ist es, das Kind zu finden. Du musst deinen Zorn also vergessen.«
Eagle schnaubt. »Nicht vergessen, nur verschieben.« Er verschränkt die Arme vor der breiten Brust und wirft Ice einen Blick zu, der deutlich macht, was er von ihm hält und über das denkt, was White Horse von ihm verlangt.
White Horse mustert Ice ernst. »Zuerst kümmert ihr euch um Sam, danach sehen wir weiter. Nichts rechtfertigt, dass ein Kind dort draußen allein herumirrt. Schutzlos.«
Ice löst seinen Blick nur zögernd von Eagle, bevor er seinem Großvater dankbar zunickt. Die anderen sitzen um das Feuer herum und beobachten schweigend, was geschieht, aber ihre Gesichter wirken so finster und unzufrieden wie das von Eagle. Niemand hier ist von Ices Anwesenheit im Lager begeistert, aber sie würden auch nur ungern ein Kind im Stich lassen, also fügen sie sich der Entscheidung ihres Anführers.
»In zehn Minuten vor dem Eingang zur Schlucht«, bestimmt Ice trocken und übergeht die schlechte Stimmung, die ihm entgegenschlägt, nimmt meine Hand und zieht mich nach draußen vor das Tipi. Es ist merklich kühler geworden, eine kalte Böe erfasst meine nackten Oberschenkel und lässt mich erschauern. Noch eben hat die Hitze des Feuers mich warm gehalten und jetzt lässt die nächtliche Kälte mich frösteln.
Aber nicht nur die, auch die Blicke der Menschen, die sich zwischenzeitlich vor dem Tipi versammelt haben. Unsere Ankunft hat sich in der winzigen Schlucht schnell herumgesprochen. Vor uns stehen fast vorwiegend Männer, aber auch ein paar Frauen und Kinder. Alle sehen Ice und mich an. In ihren Gesichtern steht Unglaube, Verachtung, aber auch Verwunderung. Die Verwunderung gilt mir und löst ein unangenehmes Kribbeln auf meiner Haut aus, weil ich es nicht gewohnt bin, mit so viel Aufmerksamkeit überschüttet zu werden. In Black Falls war ich nur ein Schatten, den kaum jemand beachtet hat, aber jetzt stehe ich hier neben Ice und wünsche mich zurück in diesen Schatten. Ganz anders als die Wölfin in mir, die sich warm und erwartungsvoll in meinem Inneren bewegt, als hätte sie ein Leben lang auf dies hier gewartet. Das Gefühl, irgendwo dazuzugehören. Ein Teil von etwas zu sein. Nicht länger allein zu sein. Als hätten wir unsere Rollen vertauscht: Sie steigt aus der Finsternis und ich ziehe mich in sie zurück.
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Breathe
RomanceNur noch eine letzte Schicht in der Bar, dann kann Raven die Kleinstadt Black Falls endlich hinter sich lassen und hoffentlich so der Dunkelheit entkommen, die sie schon ihr ganzes Leben lang quält. Doch sie hat nicht mit Ice gerechnet, der in die S...