Kapitel 15

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Raven

Ich drücke mich gegen Ices Rücken und sperre so den Fahrtwind aus, aber die Wärme und das Gefühl von Sicherheit, das ich so nahe an Ice spüre, kann ich nicht aussperren. Ich fühle mich erleichtert, schwebe gedanklich im Himmel, seit wir die Farm verlassen haben, und fühle mich freier, als ich es je zuvor getan habe. Was wohl auch daran liegt, dass ich mit Ice auf einem Motorrad bei halsbrecherischer Geschwindigkeit auf einer Landstraße dahinjage und gerade so dem Mann entkommen bin, der mir sein Zeichen auf die Schulter gebrannt hat. In mir breitet sich etwas aus, das unbedingt herausgelassen werden muss, vielleicht liegt das auch an der Wölfin, die langsam aus ihrem Schlaf erwacht und sich über die Geschwindigkeit freut wie ein kleines Kind auf einem Karussell. Ich strecke die Arme zur Seite aus, neige das Gesicht gen Himmel. Wären wir nicht auf der Flucht, würde ich die Freude herausschreien. Ich bin ähnlich berauscht wie nach meiner ersten Wandlung. Berauscht von dem Gefühl, entkommen zu sein.

Gerade so und in letzter Sekunde, denn ich war sicher, ich würde mir irgendwie das Leben nehmen müssen. Seufzend konzentriere ich mich auf die Wand aus Bäumen, an der wir vorbeirasen und versuche, die Erinnerungen zurückzudrängen. Aber mit einem Schauer brechen sie sich Bahn und zwängen sich in meinen Kopf. Ich bin wieder zurück in dem kleinen Zimmer, liege gefesselt in einem fremden Bett und starre in die gierigen Augen des Mannes, der mein Leben lang mein Vater war. Er liegt über mir, sieht auf mich herab und drückt seine Hände gegen meine Kehle. Weil auch meine Füße gefesselt sind, kann ich meine Schenkel nicht zusammenpressen. Ich bin ihm ausgeliefert. Ihm und diesem grausigen rauen Lachen, seinen groben Händen und dem, was er mir jeden Augenblick antun wird. Mir ist übel vor Angst, ich bin starr vor Schock und ich zittere. Niemals zuvor habe ich mich so hilflos und angewidert gefühlt. Das ist der Augenblick, in dem ich beschließe, zu sterben. Ich werde es wirklich tun. Es ist nicht länger nur eine Idee, die ich einfach nur erwäge. Nein, jetzt steht es fest und nichts wird mich aufhalten. Ich werde einen Weg finden.

Sherwoods Hand hat sich über meinen Körper nach unten geschoben, während ich über meinen Tod nachgedacht habe, und sich zwischen meine Schenkel gelegt. Sein Blick ist unmissverständlich. Ohne Worte sagt er mir, dass ich ihm gehöre. Jeder Zentimeter von mir gehört ihm. Nicht mehr lange, denke ich mit einem breiten Lächeln, das Sherwood für eine Sekunde verwirrt die Stirn runzeln lässt. Sein Bart streicht über meine Brüste, so lang ist er. So nah ist er mir.

»Egal was in diesem kleinen hübschen Kopf vorgeht«, sagt Sherwood, nachdem er seine Verwirrung abgelegt hat, »besser, du vergisst es gleich wieder, denn es wird nicht geschehen. Was auch immer du planst, es wird nicht passieren, denn ich werde dich keine Sekunde aus den Augen lassen.« Er droht mir so eindringlich, dass mein Atem stockt. Für einen Augenblick glaube ich ihm jedes Wort. Aber wie könnte er verhindern, dass ich sterbe, wenn ich es unbedingt will? Wenn ich entscheide, dass es Zeit für mich ist, zu gehen, dann wird nichts mich aufhalten können. Ich werde immer einen Weg finden, um meine Qual zu beenden. Mit diesem Gedanken mache ich mir weiter Mut. Er kann mir nicht nehmen, was ich denken oder fühlen soll. Er kann mir meinen Körper nehmen, aber nicht das.

Alles, was er von mir als Antwort bekommt, ist ein träges Lächeln, das ihn wütend das Gesicht verziehen lässt. Er drückt brutal seine Hand gegen meine Kehle. Ich weiß, er will mir Angst machen, indem er mir damit droht, mir den Atem zu rauben, aber auch das kann er nicht. Ich habe keine Angst vor dem Tod, nicht wenn er mein Ausweg ist. Also lächle ich abermals nur.

Aber dann passiert etwas. Jemand brüllt »Feuer«. Immer wieder und mit jedem Mal lauter und eindringlicher. »Feuer! Die Scheune brennt.« Für eine kleine Ewigkeit starren Sherwood und ich uns an. Er liegt noch immer auf mir, seine Hand an meiner Kehle, die andere zwischen meinen Schenkeln. Aber wir beide sind erstarrt und lauschen ungläubig auf die aufgeregten Stimmen, die von draußen zu uns hereindrängen. Es fühlt sich merkwürdig an, als wären wir für diesen einen Augenblick in unserem Schock verbunden. Ich halte die Luft an. Höre noch einmal hin, ob auch nicht nur meine Fantasie mit mir durchgegangen ist. Wir hören noch mehr aufgeregte Stimmen, die durcheinander schreien. Doch Sherwood liegt noch immer auf mir und starrt mich an. Sein Gesicht wirkt, als wäre es eingefroren. Sein Gewicht drückt mich in die Matratze. Wieso bewegt er sich nicht? Ist es ihm egal, dass es brennt? Die Scheune, in der Ice gefangen gehalten wird?

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