Kapitel 26

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Raven

Vor drei Wochen hat die Wirkung des Moonshines nachgelassen. Seither wandle ich mich jeden Abend nach Sonnenuntergang zusammen mit den anderen und laufe durch die Prärie. Manchmal jagen wir kleine Hasen, Gabelböcke oder auch mal einen Bison. Oft rennen wir einfach nur um die Wette, genießen den Körper des Wolfs, seine Instinkte, seine Geschwindigkeit und Kraft und das Band, das wir alle miteinander teilen. Aber dieses Band ist nicht so, wie das, das mich mit Ice verbunden hat. Wir können fühlen, was der andere fühlt. Aber es ist eher wie ein Sinn oder eine Eingebung. Nicht vergleichbar mit den Bildern und Emotionen, die Ice mir gesendet hat. In diesen drei Wochen ist das Rudel mehr zu meinem Zuhause geworden, als Black Falls und meine Mutter es jemals waren. Aber an die Nacktheit nach einer Wandlung habe ich mich noch immer nicht gewöhnt. Ich beneide Nel und Sam, die damit ganz offen umzugehen scheinen. Ich bin immer ein wenig angespannt und kann nicht schnell genug zurück in meine Höhle und in meine Klamotten schlüpfen.

Wir laufen durch das Lager, vorbei an Tipis, Hütten und dem Lagerfeuer, das in wenigen Minuten wieder sein Licht und seine Wärme auf das Rudel abstrahlen wird, während wir alle darum herum auf den Baumstämmen und Plastikstühlen sitzen und gemeinsam das Fleisch essen, das wir erjagt haben. Eagle bringt den Gabelbock in die Küche, wo er von ihm zerlegt wird. Er sieht mich eine Sekunde mit zusammengepressten Lippen an und nickt still, um mir zu bedeuten, dass er sich beeilen und dann gleich zu mir in die Höhle kommen wird. Er ist für mich da, kümmert sich um mich und hilft mir, mich in dem Leben als Wölfin zurechtzufinden. Manchmal knurrt meine Wölfin mich wütend an, wenn Eagle und ich uns zu nahe kommen, als wolle sie mich warnen, einen Fehler zu begehen und mich auf einen Mann einzulassen, der nicht mein Gefährte ist. Aber ich habe gelernt, ihre Launen zu ignorieren.

Ich winke Nel eilig zu, die sich mit einem zurückhaltenden Kuss von Sam verabschiedet, und dann gehe ich mit ihm nach oben in unsere Höhle. Wir teilen uns die Höhle noch immer, obwohl Nel ihm längst angeboten hat, zu ihr zu ziehen. Aber Sam scheint zu glauben, es würde mir vollends das Herz brechen, wenn er mich auch noch verlassen würde. Vielleicht bin ich altmodisch, aber ich finde 15 Jahre auch ein wenig zu früh, um mit seiner Freundin in eine gemeinsame Höhle zu ziehen.

In den letzten acht Wochen bin ich zu einer Art Projekt für Sam, Nel und Eagle geworden. Ich versuche immer fröhlich zu wirken, beteilige mich an allen Zusammenkünften, esse jeden Abend mit allen Bewohnern des Lagers zusammen am Lagerfeuer und unterrichte tagsüber die Kinder in der Schule, indem ich ihnen das Wissen vermittle, das ich aus der Highschool mitgenommen habe. Ich lächle viel, lache häufig und amüsiere mich, aber so sehr ich mich auch bemühe, ich bin keine gute Schauspielerin. Jeder scheint zu wissen, dass ich zerbrochen bin.

Inola hatte recht: Jeden Tag scheint mein Herz mehr zu gefrieren. Jeden Tag wird mir ein Stück kälter, und selbst die Nähe zum Lagerfeuer kann mein Inneres nicht wieder aufwärmen. Obwohl ich abends mehrere Stunden mit der Wölfin laufe, driften wir beide zurück in die Finsternis. Ice hat unsere Herzen zertrümmert, als er einfach gegangen ist, ohne Abschied zu nehmen. Und er hat mich so tief enttäuscht, als er Sam verlassen hat, dass ich nicht weiß, wie ich ihm jemals verzeihen kann. Dabei scheint Sam ihm längst verziehen zu haben.

»Also gibt es morgen Mittag wieder Bisonsuppe.« Ich strahle Sam an, ich muss gestehen, ich bin sehr stolz auf ihn. Er hat den Bison fast allein von der Herde getrennt, ihn zu Boden gerissen und seine Reißzähne in seiner Kehle versenkt, sodass wir anderen Sam nur noch helfen mussten, den Bison zu halten, damit er sich nicht mehr losreißen konnte. Ich kann Sam dabei zusehen, wie er ein immer besserer Jäger wird. »Wir werden viel von dem Fleisch für den Winter trocknen«, füge ich an und bin neugierig, wie die Frauen das machen werden. Seit Tagen schaffen wir Vorräte für den Winter an.

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