Kapitel 22

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Raven

Ich stelle den Korb, in dem sich die Decken befinden auf den Schreibtisch und sehe mich in dem Klassenzimmer um. Dass hier noch gestern Vormittag Kinder unterrichtet wurden, sieht man jetzt nicht mehr. Die Kinder sind noch immer da, sie sitzen im Raum verteilt auf Decken und Kissen, die ich gemeinsam mit ein paar Männern in die Schule gebracht habe, immer darauf bedacht, es so heimlich und unauffällig wie möglich zu tun, damit bei den Spionen über unseren Köpfen kein Verdacht aufkommt, hier könnte etwas merkwürdiges laufen. Nach außen hin haben wir es hoffentlich geschafft, die Schule so aussehen zu lassen, als wäre sie unser Versorgungszentrum, in dem wir auch unsere Wäsche waschen, weswegen ich mit einem Wäschekorb von Höhle zu Höhle gelaufen bin, um Wäsche einzusammeln. Überhaupt haben wir uns Mühe gegeben, auf unsere Beobachter so zu wirken, als würde die Bedrohung uns nicht aus der Ruhe bringen und alles wäre wie immer für uns.

Bis auf die Schreie, die gequält und markerschütternd aus der Höhle dringen. Ich hoffe, dass sie genauso grauenvoll für die Grim Wolves sind wie für uns. Dass sie sich ihnen mit jedem Atemzug in ihre verdorbenen Seelen brennen. Ich schlucke gegen den Kloß in meiner Kehle an und hole zitternd Luft, als Ice ein langgezogenes wölfisches Heulen ausstößt. Es fühlt sich an, als würde jeder Laut von ihm, von allen Wänden der Schlucht zurückgeworfen.

»Wir haben genug Decken«, meint Inola. Sie lässt ihren Blick über die Kinder und Frauen gleiten, deren Gesichter den gleichen Schmerz widerspiegeln, den auch ich fühle.

Man spürt die Unruhe und Angst in jedem Atemzug. Egal in welchem Alter sie sich befinden, jeder scheint sich genau darüber bewusst zu sein, in was für einer Situation wir uns befinden. Noch vor wenigen Stunden war für diese Kinder ihre kleine Welt fast schon perfekt. Und jetzt bricht sie vor ihren Augen auseinander. Und niemand hier kann sagen, wer von uns lebend aus der Sache rauskommt. Selbst wenn wir es schaffen, die Frauen und Kinder unbemerkt wegzubringen, was kommt danach? Wie lange werden sie sicher sein?

Inola greift nach meiner Hand, als Ice einen gequälten Schrei ausstößt und sich jeder Muskel in meinem Körper zusammenzieht. Ich fühle mich gespalten. Meine Wölfin möchte bei jedem Schrei ausbrechen und sofort zu Ice gehen, um für ihn da zu sein. Ich möchte das auch, aber ich weiß auch, dass egal, was ich tue oder sage, Ice wird sich nicht aufhalten lassen. »Er ist die beste Chance, die wir haben. Du weißt das«, sagt Inola zu mir.

Ich konzentriere mich auf den silberdurchwirkten Zopf, der auf ihrer Schulter liegt, um ihr nicht ins Gesicht sehen zu müssen, weil ich mich davor fürchte, die Tränen nicht länger zurückhalten zu können, wenn ich das Mitleid in ihren Augen sehe. »Nur weil ich das weiß, bin ich noch hier und nicht dort oben bei ihm, um ihn aufzuhalten«, gestehe ich kleinlaut und fühle mich noch schuldiger als je zuvor. Ich habe das Gefühl, wir alle versuchen, Ices Leben gegen unseres einzutauschen.

Durch die dünnen Holzwände, höre ich Sams wütende Stimme. Er brüllt auf jemanden außerhalb der Schule ein. Ohne ihn zu sehen, weiß ich, dass er es noch einmal bei John versucht, der von White Horse dazu abgestellt wurde, jedem außer Eagle den Zugang zu der Höhle zu verwehren, in der Ice sich jetzt schon seit Stunden immer wieder wandelt. Ein ewig andauernder Kreislauf aus menschlichen und wölfischen Schreien, unterbrochen von den kurzen Pausen, die Ice benötigt, um für eine neue Wandlung Kraft zu tanken.

»Ich seh mal nach Sam«, sage ich zu Inola und verlasse die Schule. Draußen kommt mir einer der Männer entgegen. Er trägt einen Korb, aus dem es nach gebratenem Speck und Tee riecht. Niemand in der Schule hat heute Morgen schon etwas gegessen. Vielleicht muntert sie ein Frühstück etwas auf.

Langsam senkt sich die Hitze über die Schlucht und verdrängt die Kälte der Nacht. Ich hebe den Blick und entdecke den Schatten auf dem Bergkamm ohne lange suche zu müssen. Dort steht ein bewaffneter Mann. Auf der gegenüberliegenden Seite bewegt sich ein Wolf über die Felsen. Und hier unten wirkt das Lager leer. White Horse sitzt mit Eagle in dem Tipi und schmiedet Pläne. Noch gestern haben sie mit dem Funkgerät den Sheriff kontaktiert. Trotz unseres Versuchs, alles normal wirken zu lassen und der Vorbereitung für die Beerdigung heute Abend, spürt man diese Unruhe und Anspannung sogar in der Luft.

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