Kapitel 24

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Raven

Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich seinen rotglühenden Blick noch immer vor mir. Ich sehe die scharfen Zähne, seine langen Finger mit den spitzen Krallen und seine ledrig schwarze Haut. Sein Atem geht schwer und seine Bewegungen wirken mechanisch, als hätte er Schwierigkeiten, seinen neuen Körper zu kontrollieren. Ich spüre die Hitze, die er ausstrahlt und sehe das Blut, das von seiner Klaue tropft, die er mir entgegenstreckt. Das war Ice. Dieses Monster, das nicht Tier, aber auch nicht Mensch war. Das die Kraft besaß, die Seitenwand eines Lasters einfach in Stücke zu zerlegen. Und das Sherwood regelrecht zerfetzt hat.

Ihn so zu sehen, hat mich erschüttert. Mein erstes Bedürfnis war, vor ihm zu fliehen. Nur weil ich ihn nicht verletzen wollte, habe ich meine Furcht niedergekämpft. Denn tief in mir drin wusste ich, irgendwo in diesem übergroßen Ungetüm befindet sich Ice. Meine Wölfin hatte keine Furcht vor ihm. Sie war ganz ruhig und entspannt und hat sich überhaupt nicht so verwirrt gefühlt wie ich. Und weil sie ihm vertraut hat, habe ich auch die Kraft gefunden, diesem furchteinflößenden Wesen mit den teuflischen Augen zu vertrauen. Dieses Vertrauen haben die meisten Grim Wolves nicht aufgebracht. Sie sind in alle Richtungen geflohen, sobald ihnen klar war, dass Sherwood tot ist.

Ich muss meine Hand auf seine nackte Brust drücken, während er mich durch das Lager trägt und jedem einen warnenden Blick zuwirft, der mir zu nahe kommt. Einfach, um sicherzugehen, dass der Mann, der mich auf seinen Armen trägt und gegen seinen Körper presst, Ice ist. Obwohl er aussieht wie Ice, klingt wie Ice und auch so riecht, bewegt er sich kraftvoller, scheint aufmerksamer seine Umgebung im Blick zu haben und ständig mit einem Angriff zu rechnen. Er scheint jedem zu misstrauen, fast wie ein wildes Tier, das sich in eine Ecke gedrängt fühlt, erdolcht er mit eiskaltem drohenden Blick jeden, der uns auch nur ansieht.

»Sherwood ist tot«, sage ich beruhigend zu ihm. Aber eigentlich muss ich es selbst hören, um es zu glauben. Ich habe seinen Körper gesehen, aber richtig bewusst ist mir das noch nicht geworden. Da ist noch keine Erleichterung, die über mich hinwegflutet und ich kann auch noch nicht besser atmen. Ganz im Gegenteil, ich fühle mich noch immer von Sorge erdrückt. Da ist noch immer diese Angst, wenn ich die Augen für eine Sekunde schließe und sie dann wieder öffne, blicke ich in das bärtige Gesicht des Mannes, der mich mein Leben lang belogen hat, mich an sein Bett gefesselt und versucht hat, mich zu vergewaltigen. Vielleicht geht es mir nicht wirklich anders als Ice.

Ices Blick geht kurz zu mir, er brummt bestätigend und bewegt sich weiter zügig auf die Schule zu, ohne ein einziges Wort zu sagen. Er tritt gegen die Tür der Schule, die krachend innen gegen die Wand fällt und legt mich auf den einzigen Tisch im Raum. »Inola«, brüllt er mit vibrierender Stimme. Seine Brust bebt unter angestrengten Atemzügen und seine Augen mustern mich besorgt. Ich weiß nicht, wann ich aufgehört habe, die Schmerzen in meinem Knöchel zu fühlen. Aber jetzt, wo der Schock sich setzt und das Adrenalin im Körper absinkt, ist das Pulsieren zurück. Wenn ich mich wandeln könnte, wäre mein verletzter Knöchel kein Problem. Aber Sherwood hat mir vorhin mit Gewalt eine Spritze in den Oberarm gerammt. Das Moonshine sollte verhindern, dass ich meine Wolfsform annehme und einen Weg finde, um ihm zu entkommen.

»Du hast es geschafft«, murmle ich über den Schwindel in meinem Kopf hinweg. Als Sherwood mich von sich gestoßen hat, habe ich mir den Kopf angeschlagen, aber sonst habe ich keine weiteren Verletzungen. Da ist also nichts, was ich nicht einen Monat lang aushalten werde. »Ich muss es uns beiden noch einmal sagen.«

Ice sieht mich kurz an, atmet zitternd ein und seufzt leise. »Hattest du je Zweifel?«, versucht er zu scherzen, aber es gelingt ihm nicht wirklich, zu verbergen, wie aufgewühlt er ist. Sein Blick zuckt wild umher, seine Atmung geht noch immer viel zu schnell. Er steckt zwar nicht mehr im Körper dieses Biests, aber ich habe das Gefühl, es ist noch immer in ihm und sucht nach einem Weg, um ausbrechen zu können.

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