Kapitel 20

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Raven

Ich wische mir über die Stirn, weil die Luft so flirrend heiß ist, dass mir das Atmen schwerfällt. Aber der Anblick der Felsformation bei Tageslicht entschädigt für die drückende Hitze. In Weiß-, Rot- und Brauntönen erheben sich die Felsen rund um das Camp. Die Badlands, Maco Sica, hat Nel sie gestern Abend genannt. Ich habe sie mir immer irgendwie trostlos vorgestellt, aber das sind sie nicht. Sie sind wie ein Gemälde, das sich vor dem strahlend blauen Himmel abhebt. Ich stehe vor dem Höhleneingang und bin erstaunt darüber, wie schnell die Hitze über das kleine Camp hereingebrochen ist. Ich wage nur einen vorsichtigen Blick direkt nach unten, wo schon geschäftiges Treiben herrscht. Nicht nur die Ziegen meckern leise vor sich hin, auch eine Gruppe Frauen sitzt unten um einen Berg Mais herum und säubert die Kolben.

»Hast du gut geschlafen?« Nel kommt die schmalen Stufen mit einem Korb in der Hand nach oben. Sie sieht so munter aus, dass ich sicher bin, alle anderen sind schon viel länger wach als ich.

»So gut es ging«, gestehe ich und füge eilig an: »Ich hab mir einfach so viele Sorgen gemacht. Aber das Bett war bequem.«

»Es gibt noch nichts Neues«, gesteht Nel und hebt mir den Korb vor das Gesicht. »Aber ich habe neue Sachen für dich und Frühstück für uns beide. Lass uns reingehen.«

Ich folge ihr, obwohl ich gar keinen Hunger verspüre, aber abzulehnen wäre unhöflich. Irgendjemand, vielleicht Nel selbst, hat sich die Mühe gemacht, das Frühstück zu machen, es wäre nicht nett, nachdem die Menschen mir hier schon Schutz bieten, das Essen abzulehnen, nur weil mir vor lauter Sorge der Magen krampft.

Nel reicht mir frische Kleidung, eine Zahnbürste und alles, was sie mir gestern nicht schon dagelassen hat, und deckt den Tisch mit Beerengrütze, Rührei und Speck. Ich setze mich neben sie, werfe einen flüchtigen Blick nach draußen, wo in der Ferne ein Wolf heult. Es ist ein Werwolf, das erkenne ich daran, dass meine Wölfin sich in meinem Kopf regt.

»White Horse hat gesagt, du nimmst heute Vormittag am Unterricht teil«, fragt Nel mich neugierig und füllt eine kleine Holzschale mit Beerengrütze für mich. »Ganz traditionell«, sagt sie und stellt die Schüssel vor mich hin.

Am Unterricht teilnehmen? Ich hoffe, White Horse sieht es nicht wirklich so. Ich habe meinen Schulabschluss erst vor ein paar Tagen gemacht, es kommt mir vor, als wären schon Ewigkeiten vergangen, so viel ist passiert, seit ich Black Falls verlassen habe. So gut es mir hier im Camp auch gefällt, für mich steht fest, dass ich Ice begleiten werde, wenn er das Camp wieder verlässt. »Er will die Geschichte erzählen, in der es darum geht, wie der erste Werwolf entstanden ist.«

Nel nickt bestätigend. »Sie wird dir bestimmt gefallen. White Horse erzählt ganz toll.«

Wir schweigen einige Minuten, und weil ich die Stille nicht aushalte, sie lässt in meinem Kopf die schlimmsten Szenarien lebendig werden, alles mögliche, das Ice oder Sam passiert sein könnte, stelle ich Nel die erste Frage, die mir einfällt. »Als wir gestern Abend durch das Reservat gefahren sind, standen überall verrostete und ausgeschlachtete Autos herum. Was ist das für eine Tradition? Hat das eine Bedeutung?«

Nel kichert. »Keine Bedeutung. Im Reservat gibt es keine Entsorgung für Sperrmüll. Und wir leben eher mit dem Gedanken, dass sich alles irgendwie noch mal verwenden lässt, also haben viele in ihren Gärten hinter den Häusern Berge von Müll stehen: alte Sofas, Tische, Kühlschränke. Und die Autos bleiben dort stehen, wo sie nicht mehr wollten und werden über die Jahre ausgeschlachtet.«

»Nachhaltig«, werfe ich lachend ein und Nel stimmt mir zu.

»So könnte man es auch nennen.«

»Und die löchrigen Verkehrsschilder. Manche sehen aus wie Siebe.«

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