Kapitel 21

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Raven

»Warte hier«, sagt Ice mit grimmigem Blick. Unser Gespräch hat uns beide aufgebracht. Ich verstehe, dass Ice mich nur schützen will. Aber ich verstehe nicht, warum er noch immer versucht, mich von sich zu stoßen. Wovor hat er Angst? Wir spüren offensichtlich beide, dass da mehr als bloße Zuneigung zwischen uns ist, aber jeder von uns geht anders damit um. Er will diese Gefühle nicht zulassen und ich habe sie längst zugelassen. In dem Augenblick, als ich das erste Mal Sex mit ihm hatte. Und seither jede gemeinsame Sekunde danach. Seine Nähe löst ein ständiges Kribbeln in mir aus. Ich will ihn berühren und von ihm berührt werden. Ich will ihn beschützen, für ihn da sein und ihm nahe sein. Ich will mich dem Verlangen meiner Wölfin ergeben, weil es auch mein Verlangen ist. Und deswegen macht es mich wütend, dass er mich wegstößt, mich nicht mit einbezieht und mich auf Abstand hält. Nein, es macht mich nicht wütend. Es macht mich verzweifelt. Und er will mich nicht nur wegstoßen, er wird einfach gehen und mich zurücklassen.

Vielleicht irre ich mich und all dieses Begehren, das in mir brodelt und sich wie eine Sucht nach diesem Mann anfühlt, spüre allein ich und Ice empfindet nichts außer der Schuld, mich in diese Welt gezogen zu haben. Dabei habe ich mich längst damit abgefunden, meinen Körper und meine Seele mit einer Wölfin zu teilen. Weil sie schon immer da war. Jetzt weiß ich nur von ihr. Und ich akzeptiere sie als einen Teil von mir. Auch wenn ich diese neue Welt selbst noch nicht verstehe und es all diese düsteren Seiten und Sherwood gibt. Aber den heutigen Tag mit Nel zu verbringen, hat mir gezeigt, wie befreit von Sorgen dieses Leben sein kann. Nel ist so fröhlich und lebendig. Sie ist so eins mit ihrer Wölfin und ihrem neuen Dasein, dass es sich anfühlt wie eine Leichtigkeit, um die ich sie beneide. Die ich gerne auch erreichen würde, wenn da nicht diese Bedrohung über meinem Kopf schweben würde wie eine graue schwere Sturmfront.

»Ich warte nicht«, erwidere ich mit entschlossener Miene und schüttle vehement den Kopf.

Ice atmet tief ein, als wolle er etwas erwidern, winkt dann aber kopfschüttelnd ab und verlässt hinter seinem Bruder die Höhle. Er kennt mich inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ich nicht ohne Streit nachgebe.

Ich eile hinter den beiden her den Holzsteg und dann die Leitern hinunter. Schon von oben kann ich sehen, dass sich vor dem Eingang zur Schlucht eine Gruppe Menschen aufhält. Ich bin mir sicher, sämtliche Mitglieder des Rudels stehen dort. Und irgendetwas regt sie so auf, dass sie laut durcheinander reden. Die unangenehm aufgeregte Stimmung schwappt uns entgegen, als wir uns ihnen nähern. Ich höre Ices Namen. Jemand gibt ihm die Schuld für das, was auch immer diese Aufregung verursacht. Wieder jemand anderes fordert, Ice so schnell es geht aus dem Lager zu werfen. Meine Kehle schnürt sich unangenehm zu, als ich höre, wie das Rudel über Ice spricht.

Ich erkenne White Horse an seiner Stimme, als er vehement ablehnt, was ein paar der Bewohner verlangen. Ich weiß nicht, um was es geht, aber ich fühle den Angriff auf Ice, als hätte er mir gegolten. Er bohrt sich in meine Brust und verursacht einen traurigen Schmerz. Aber auch Wut auf jeden, der Ice wegschicken will. Ich mache mich bereit, ihn zu verteidigen. Ich will ihn unbedingt davor beschützen, ungerecht behandelt zu werden. Meine Wölfin möchte sich am liebsten vor ihm aufbauen und niemandem erlauben, sich Ice zu nähern.

Zuerst kann ich White Horse nicht sehen, aber dann schiebt Ice sich durch die Ansammlung und ich nutze den Spalt, um nach ihm mit hindurchzuschlüpfen. Die Sonne ist noch nicht untergegangen, aber es wird schon kühler. Hier in der Prärie kühlt es abends schnell ab. Nur in Shorts und einem dünnen Shirt kann es hier schnell zu frostig werden. Aber ich ignoriere die Kälte, die über meine nackte Haut streicht, und im nächsten Augenblick habe ich sie auch schon wieder vergessen. Alles, was ich jetzt noch fühle, ist eine verzehrende Starre, die meinen Körper befällt.

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