Kapitel 12

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Ice

Ich streichle über die offenen Stellen in ihren Handinnenflächen und küsse sanft ihre Fingerknöchel. Ich kann den Gedanken nicht loswerden, dass sie ohne mich nicht hier wäre. Aber das ist nicht wahr. Vielleicht wäre sie jetzt noch nicht hier, aber Sherwood hätte sie irgendwann hergebracht. Sie ist die letzte weibliche Wölfin, die ihm eigenen Nachwuchs gebären kann. Die Vorstellung, dass er sie dazu zwingen wird, ihn als Gefährten zu akzeptieren, lässt den Knoten aus Wut in meinem Magen ins Unermessliche anschwellen. Wenn das Silber in meinem Körper mich nicht daran hindern würde, würde schon allein das Gefühl der Machtlosigkeit meinen Wolf die Kontrolle übernehmen lassen. Ich kann nur noch daran denken, Raven zu schützen. Aber wie?

»Es tut mir leid«, sage ich zu ihr. »Ich hatte kein Recht, dir das alles anzutun.«

Sie stößt ein leises Lachen aus und verdreht die Augen. »Ich wäre dem hier so oder so nicht entkommen. Also ist es nicht deine Schuld.« Sie dreht sich auf die Seite und mustert mich mit einem milden Lächeln, das auf mich müde und erschöpft wirkt. Als hätte sie sich längst mit ihrer Situation abgefunden. »Wird dich das Silber töten?« Ihr Blick gleitet besorgt über mein Gesicht.

»Nein, es schwächt mich nur. Der Körper baut es irgendwann ab und dann ist alles wieder normal«, erkläre ich ihr. Sage ihr aber nicht, dass es gefährlich werden könnte, wenn Sherwood und seine Soldaten mich über Tage hinweg mit Silber behandeln. Ich will nicht, dass sie sich um mich sorgt. Sie soll sich auf sich konzentrieren. »Wenn du die Gelegenheit bekommst, dann flieh.« Ich rutsche noch näher an sie heran. »Irgendwann wird Sherwood dich hier rausholen, sonst kann er dich nicht zu seiner Gefährtin machen.«

Raven schnaubt abfällig. »Er wird mich rausholen, um mich zu vergewaltigen, meinst du.« Sie dreht ihr Gesicht weg, als sie das sagt, aber ich kann die Angst trotzdem sehen. »Das ist es doch, was passieren wird.« Ihre Stimme ist nur noch ein leises, schmerzerfülltes Flüstern.

Ich schlucke hart, als sie ausspricht, was sich seit Stunden wie Säure durch meine Brust frisst. »Ja«, gestehe ich flüsternd ein und koche innerlich vor Wut bei der Vorstellung. »Er wird mit dir allein sein, das ist deine einzige Chance. Verwandle dich und flieh. Greif ihn nicht an, er ist viel stärker als du. Alphas verfügen über viel mehr Kraft. Lauf einfach. Du musst ihn überraschen. Nutze den einen Augenblick, in dem er dich allein im Zimmer lässt, verwandle dich und überrumple ihn, sobald er zurückkommt. Auch als Alpha braucht er Sekunden, um sich zu verwandeln. In dieser Zeit kannst du schon weit weg sein«, rassle ich den unausgegorenen Plan runter, der sich in meinem Kopf als einzige Hoffnung festgesetzt hat. Denn er ist die einzige Hoffnung für sie.

Ich hole tief Luft. Ich muss sie zur Flucht drängen, damit sie eine Chance hat. Ich muss sie auf jede Möglichkeit vorbereiten, die sich ihr bieten könnte. »Du kannst dich nirgends verstecken, weil sie dich riechen können. Sie werden deiner Spur folgen. Also musst du laufen, so schnell du kannst. Die Farm ist von einem Elektrozaun umgeben, überall wird es bewaffnete Wachen geben. Wölfe bewachen das Land um das Grundstück herum.«

»Du willst mir also sagen, dass es eigentlich unmöglich ist«, fährt sie mich an, entzieht mir ihre Hand und setzt sich auf.

»Nein«, werfe ich energisch ein. »Nichts ist unmöglich, du musst es nur versuchen. »Überquer die Weide direkt vor dem Haus. Wenn du als Wolf durch die Herde läufst, werden die Rinder durchgehen. Das wird Sherwoods Soldaten aufhalten. Lauf direkt auf den Wald zu, ohne anzuhalten. Du musst den Fluss erreichen.«

»Ice, hör auf«, stößt sie wütend aus.

»Nein, du hörst mir zu. Du kannst das schaffen, weil Sherwood nicht auf dich schießen lassen wird. Er will dich lebend. Tot nutzt du ihm gar nichts.« Ich stoße die Worte eindringlich aus, weil sie mir einfach zuhören muss. »Du musst es versuchen. Du kannst entkommen, ich weiß es«, füge ich verzweifelt an. Mein Puls rast panisch, als ich immer weiter auf sie einrede. Da spricht nicht nur mein schlechtes Gewissen aus mir, sondern allesverzehrende Angst um sie. Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, was sie alles wird erleiden müssen. Ich fühle mich hilflos deswegen und würde am liebsten die Welt um mich herum zerreißen, um sie zu schützen.

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