Kapitel 3

142 14 2
                                    



Ice

Schon seit einiger Zeit kämpft Raven mit der eigenen Müdigkeit, wahrscheinlich hin und her gerissen zwischen ihrer Angst vor mir, dem, was ich mit ihr vorhaben könnte und dem Bedürfnis, die Augen zu schließen, in der Hoffnung, später aufzuwachen und alles war nur ein Traum. Mitleid mit einem Opfer kenne ich eigentlich nicht, aber bei ihr ist es anders. Was wohl daran liegt, dass ich noch nie längere Zeit mit einem Opfer verbracht habe. Bisher waren sie nichts weiter als ein Auftrag, den es zu erledigen galt. Sie ist die Erste, die kein Auftrag ist, sondern nur ein Mittel zur Befriedigung meiner Rache. Und sie ist die Erste, die nicht aus meiner Welt stammt und das alles nicht verdient hat. Ich bin ein Jäger, ausgebildet zu jagen. Aber dabei geht es nur um Abtrünnige. Mit alldem hat sie nichts zu tun.

Ich stöhne innerlich, als ich an die Szene vorhin im Wald denken muss. Diese zierliche Frau war so mutig, trotzig und selbstbewusst. Stärker als mancher Abtrünniger, der vor mir in den Ketten gehangen hat und aus dem ich stundenlang Informationen gefoltert habe. Sie hat mich zornig gemacht. Und sie hat mich erregt. Ihren Körper an meinem zu spüren, ihre heftige Atmung und ihre Wärme zu fühlen, hat mich fast die Kontrolle verlieren lassen. Ich habe mit mir selbst gekämpft. Ich war so nahe dran, meine dunkle Seite rauszulassen.

Wir sind jetzt schon etwas länger als zwei Stunden unterwegs. Sie seufzt leise, als ich um eine Kurve fahre und ein Auto uns entgegenkommt, dessen Lichter durch das Innere des Pick-ups huschen. Ihre Augen öffnen sich, sie sieht mich an, für den Bruchteil einer Sekunde verwirrt, doch dann fällt ihr wohl ein, wo sie sich befindet und ihr Blick verfinstert sich. Sie richtet sich auf, drückt sich mit dem Rücken gegen die Autotür und presst trotzig die Lippen aufeinander. Mir gefällt das Funkeln in ihrem Blick, der Zorn, den sie gegen mich richtet. Die Vorstellung, wie es wäre, diese Wut in eine viel heißere Richtung umzulenken, macht mich wahnsinnig vor Verlangen. Und dann diese Lippen. Obwohl sie sie zusammenpresst, sind sie noch immer voll und sehen weich und verführerisch aus. Als wären sie geschaffen, um erobert zu werden. In meinem Kopf sehe ich mir selbst dabei zu, wie ich über diese volle Unterlippe lecke, bevor ich sie zwischen meine Zähne nehme und sanft beiße. Eigentlich bin ich nicht so. Meine Gedanken schockieren mich selbst, aber irgendetwas hat sie an sich, das mich nicht loslässt und aus mir jemanden macht, der ich nicht sein will. Dafür verabscheue ich mich. Dabei habe ich schon viel schlimmere Dinge getan, als anzügliche Gedanken über eine Frau zu haben.

»Wo sind wir?«, will sie harsch wissen.

Ich blinzle verwirrt. »Mitten am Arsch der Welt, würde ich sagen.« Ich muss mich mehr auf die Straße konzentrieren, auch wenn es hier meilenweit nur geradeaus geht, das Auto hält sich nicht von allein auf der Straße. Ich grinse, als sie das Gesicht verzieht. Und ich grinse noch einmal, als ihr Blick auf die Pistole fällt, die auf meinen Oberschenkeln liegt. »Das wird nichts, Süße«, sage ich bestimmt.

»Ich habe gar nicht daran gedacht«, antwortet sie düster.

»Wenn du nicht daran gedacht hättest, wüsstest du nicht, wovon ich eben geredet habe«, werfe ich grinsend ein und ernte wieder nur ein abfälliges Schnauben. Irgendwie finde ich es sexy, wenn sie das tut, weswegen es bei mir die Wirkung, die sie sich erhofft, völlig verfehlt. Ganz im Gegenteil.

Ein paar Meter vor uns taucht ein Schild im Scheinwerferlicht auf, das ein Motel bewirbt. »Was hältst du von einem Motel mitten am Arsch der Welt?«, frage ich sie, obwohl mich ihre Meinung nicht interessiert. Ich brauche eine Pause und sie braucht sie auch. Der Weg, der vor uns liegt ist noch weit, und irgendwie will ich nicht, dass sie völlig erschöpft die ganze Nacht neben mir im Auto sitzen muss, nachdem sie den gesamten Abend in der Bar bedient hat. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt darüber nachdenke, ob es ihr gut geht oder nicht. Es sollte mich nicht interessieren.

BreatheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt