Ice
Langsam wende ich mich zu ihr um. Ihr Herz rast so sehr, dass ich es sogar über das Rauschen in meinen Ohren hinweg trommeln höre. In ihren weit aufgerissenen Augen schwimmen Tränen. Ich wünschte, ich könnte sie zurück in diese kleine Stadt bringen, in der nichts anderes geschieht, als dass ein dürrer Junge sich nicht traut, ihr zu sagen, was er fühlt. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Ich ziehe sie an mich und versuche, sie zu beruhigen. Was jetzt auf gar keinen Fall geschehen darf, ist, dass sie sich verwandelt. Wenn sie zur Gefahr wird, würde Sherwood nicht zögern, sie zu töten. So wie er auch Sultan getötet hat. In diesem Raum gäbe es keine Möglichkeit, ihren Klauen und Fängen zu entkommen. Sherwood wäre gezwungen, sie zu töten. Sie hätte gegen den Alpha keine Chance.
Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen, weil ich nicht begreife, was Sherwood da gerade gesagt hat. Für Sekunden kann ich nichts tun, außer zu versuchen, Raven mit meiner Nähe zu beruhigen. Mein Hirn ist unfähig, diese Information richtig zu verarbeiten. Verwirrt starre ich den Mann an, der mich großgezogen hat, der viele Jahre lang mein Alpha und der auch für mich immer ein Vater war. Sie kann nicht seine Gefährtin sein. Denn sie ist meine Gefährtin. Er kann sie nicht haben, weil sie längst mir gehört. Gehören würde, wenn ich nicht zu feige gewesen wäre, sie an mich zu binden.
»Deine Frau? Bist du verrückt?«, keift sie ihn mit hohler Stimme an.
Sherwood kommt näher und packt den Finger, den sie auf ihn gerichtet hat, sein Blick senkt sich voll Wut auf Raven. Er knurrt sie in einer eindeutigen Warnung an. Aber Raven versteht diese Warnung nicht. Stattdessen entreißt sie ihm ihren Finger und schubst Sherwood ohne genug Kraft, ihn auch nur zum Schwanken zu bringen. Aber einen Angriff dieser Art vor seinen Männern kann er niemandem durchgehen lassen. Auch nicht ihr.
Die Kraft des Schlags, der Raven im Gesicht trifft, reißt ihren Kopf zur Seite, lässt sie stolpern und ihre Unterlippe aufplatzen. Ich kann das Blut riechen, bevor ich die Verletzung sehen kann. Bevor ich sie erreichen und vor einem Sturz bewahren kann. Dieser Schlag reißt mich aus meiner Starre. Mit einem gefährlichen Grollen, das sich aus meiner Kehle befreit, richte ich mich gegen Sherwood. Ich bin bereit, ihn anzugreifen. Bin bereit, ihn zu töten. Meine Finger werden zu Klauen, jeder Muskel meines Körpers vibriert vor Anspannung. Ich will ihm die Brust aufreißen, will auf ihn einschlagen und größtmöglichen Schaden anrichten. Aber mein Verstand setzt ein, bevor ich einen Fehler begehen kann. Es würde Raven nicht retten, wenn ich mich jetzt umbringen lasse. Ich halte die Luft an, balle die Hände und treibe meine Krallen in meine Handinnenflächen, um mich unter Kontrolle zu bringen und die Wut zurückzudrängen. Das Monster in mir will die Gewalt, es will Raven um jeden Preis schützen. Aber auf diese Weise kann es sie nicht schützen, es würde sie nur noch mehr in Gefahr bringen. Ich senke ergeben den Blick und trete von Sherwood zurück. Mich ihm unterwerfen zu müssen, schmeckt wie bittere Galle. Aber Raven, Sam und ich sind ihm unterlegen. Seine Männer könnten Sams Genick brechen, noch bevor ich Sherwood meine Klauen in die Brust geschlagen hätte.
Ich greife nach Ravens schmalem Körper, richte sie auf und schiebe sie zurück hinter meinen Rücken, wo ich sie festhalte. Das hier habe ich zu verantworten. Das hier ist meine Schuld. Ohne mich wäre sie jetzt irgendwo, nur nicht hier. Weit weg von ihm, hätte vielleicht eine Chance gehabt, dem Clan zu entkommen.
»Sie ist deine Tochter«, stoße ich mit so viel Untergebenheit aus, wie ich diesem Mann gegenüber noch aufbringen kann. Meine Stimme zittert, weil ich um jedes Wort kämpfen muss.
Sherwood legt den Kopf schief und sein Gesicht nimmt diesen Ausdruck an, den es immer dann hat, wenn er sehr zufrieden mit sich ist. Mit etwas, das er zustande gebracht hat und das niemand anders von uns hätte schaffen können.

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Breathe
RomanceNur noch eine letzte Schicht in der Bar, dann kann Raven die Kleinstadt Black Falls endlich hinter sich lassen und hoffentlich so der Dunkelheit entkommen, die sie schon ihr ganzes Leben lang quält. Doch sie hat nicht mit Ice gerechnet, der in die S...