Kapitel 23

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Raven

Ich verlasse Ice mit einem dumpfen Gefühl der Schuld. Hilflosigkeit hält mich in ihren Klauen und ich muss mehrmals tief durchatmen, um meinen Körper mit genügend Sauerstoff zu versorgen. Ice zu sehen, erschöpft, aufgelöst, die Kontrolle über sich und seine Emotionen verloren, hat mich hart getroffen. Ich hatte damit gerechnet, dass es ihm nicht gut gehen würde, aber was ich gesehen habe, hat meine Befürchtungen weit übertroffen. Der Ice, den ich kennengelernt habe, hat niemals seine innere Stärke verloren, egal wie aussichtslos die Situation war. Er war immer bereit, zu kämpfen. Ob für sich selbst, für seinen Bruder oder für mich. Der Ice in der Höhle erschien mir, als hätte ein Teil von ihm schon aufgegeben. Und der andere Teil war viel mehr Tier als Mensch.

Ich lehne mich mit zitternden Beinen gegen die Felswand und starre auf den dunklen Schatten, der auf der anderen Seite der Schlucht steht und mich zu beobachten scheint. Ich fühle mich sogar zu erschüttert, mich darüber zu ärgern. Es ist mir schlicht egal, dass er dort steht. Was mir nicht egal ist, ist die Angst, die mich innerlich befallen hat. Was, wenn der Wolf Ice vollkommen übernimmt? Wenn nichts mehr von ihm übrig bleibt, weil ihm die Kraft fehlt, die Kontrolle über den Wolf zu behalten?

Meine Knie zittern, als ich mich von der Wand löse, um weiterzugehen. Ich blinzle gegen die Tränen an, die sich einen Weg aus meinen Augen suchen und flüchte regelrecht vor den Eindrücken, die mich eben überwältigt haben. So schnell ich kann durchquere ich das Lager auf die andere Seite und verstecke mich in der Höhle, die ich mir mit Sam teile. Ich bin erleichtert, dass Sam nicht da ist und lasse mich auf das Bett fallen. Aber ich lasse nicht zu, dass auch nur eine Träne meine Augenwinkel verlässt, weil ich davon überzeugt bin, wenn ich erst anfange zu weinen, dann hat Sherwood gewonnen. Aber ich kann Sherwood nicht gewinnen lassen.

Stöhnend richte ich mich auf und taste mit der Hand die knubbeligen Erhebungen des Mals unter meinem Shirt ab. Immer, wenn ich an Sherwood denke, fängt das Mal an zu pulsieren, als wollte es mich verhöhnen. Als wollte es mir sagen: Du gehörst ihm. Und nichts wird etwas daran ändern. Und weil du Angst davor hast, ihm zu gehören, schickst du Ice in den Tod. Ich schlucke schwer und wische mir gerade verstohlen eine Träne von der Wange, als Eagle die Höhle betritt.

»Ich wollte nur nochmal nach dir sehen«, sagt er leise und bleibt neben dem Tisch stehen. Sein Blick gleitet besorgt über mich. »Ich hätte das nicht erlauben sollen.«

Ich seufze frustriert auf. »Ich bin kein kleines Mädchen, das ständig von jedem beschützt werden muss. Ich komme klar damit«, stoße ich unbeherrscht aus. Sofort tut es mir leid, so grob gewesen zu sein. Eagle war in den letzten Tagen nichts als freundlich zu mir. Selbst zu Ice, trotz allem, was die beiden voneinander trennt. »Er wird es nicht schaffen, oder?«, frage ich Eagle und verberge die Mutlosigkeit, die ich empfinde nicht. Diese Sache hat mir von Anfang an nicht gefallen, weil sie egal ob Ice seinen Plan verwirklichen kann oder nicht, mit seinem Tod enden könnte. Enden wird?

Eagle presst die Lippen aufeinander, zieht sich einen Stuhl zurück und setzt sich. Seine Haare trägt er heute offen, weswegen sie ihm ins Gesicht fallen wie ein Vorhang, als er die Arme auf die Oberschenkel stützt und auf den Boden starrt. »Nein, ich glaube nicht. Was Ice da versucht, verlangt eine unglaubliche innere Stärke. Es verlangt von beiden, einander blind zu vertrauen und sich selbst aufzugeben, um eins werden zu können. Das ist nicht so einfach, besonders, weil wir seit unserer ersten Wandlung immer versucht haben, den Wolf zu kontrollieren, damit seine Instinkte uns nicht übernehmen und wir nie wieder in die menschliche Form zurückfinden. Dem Wolf die Kontrolle zu überlassen, bedeutet Gefahr zu laufen, für immer in der Form des Wolfs gefangen zu bleiben. Der Wolf darf niemals stärker werden als wir es sind. Was Ice gerade versucht, erfordert mehr Kraft und Konzentration, als die meisten von uns aufbringen können. Deswegen gibt es nur so wenige Alphas. Und deswegen sind sie die Alphas, weil sie etwas geschafft haben, das den meisten unmöglich erscheint.«

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