Raven
Ich sehe angsterfüllt in die Richtung, in der Ice verschwunden ist, und hoffe auf jedes Geräusch. Ein leises Knacken von Zweigen, etwas, das von einem Baum fällt. Jedes Geräusch lässt mich hoffnungsvoll aufsehen. Aber je länger es dauert, desto mehr Panik erfüllt mich. Und dann fallen Schüsse, zerreißen die Luft und ich erstarre. Um meine Brust legt sich eine Kette, die mit jedem angsterfüllten Herzschlag enger wird, bis ich glaube, ersticken zu müssen. Den Schmerz in meinem Oberschenkel fühle ich kaum noch, während ich darauf warte, ob Ice zurückkehren wird oder der Jäger ihn für immer aus meinem Leben gerissen hat. Es hat sich so vieles verändert zwischen uns. Zuerst war er nur ein Fremder in der Bar, in der ich gearbeitet habe. Dann war er mein Entführer. Und jetzt ist er so viel mehr. Der Mann, dem ich mein Leben anvertraue. Der Mann, mit dem ich die schlimmste Folter und Gefangenschaft durchgestanden habe. Der Mann, der mich vor Sherwood gerettet hat. Der Mann, nach dem nicht nur mein Körper sich sehnt, auch mein Herz fühlt sich zu ihm hingezogen.
Ich starre auf die Leiche, die mit aufgerissener Kehle neben mir liegt und erschauere. Ich habe in den letzten Tagen viel Schlimmes gesehen, aber eine Leiche mit aufgerissener Kehle sehe ich zum ersten Mal. Ich versuche, etwas abzurücken, aber als ich das Bein bewege, schießt Schmerz durch meinen Muskel. Ich hole tief Luft und krieche mit zusammengebissenen Zähnen zum nächsten Baumstamm. Das Silber der Kugel schwächt mich zusehends. Erschöpft atme ich durch und starre wieder zwischen die Bäume, als ich ein leises Knacken höre. Das Geräusch lässt mich sofort hoffen, aber es macht mir auch Angst. Was, wenn es nicht Ice ist? Die Schüsse könnten noch mehr von Sherwoods Jägern hergelockt haben. Und sie könnten Ice getötet haben. In meiner Brust trommelt ein heftiges Feuer, dass mir den Atem raubt, und Tränen brennen in meinen Augen. Was soll ich ohne Ice tun?
Kälte durchströmt meinen Körper und meine Lider flattern. Ich versuche, mich auf alles vorzubereiten, aber das nächste Knacken lässt mich erbeben und ich zwinge mich, mich weiter um den Baum herum zu bewegen, damit ich nicht sofort entdeckt werde, von wem oder was auch immer sich langsam nähert. Aber eigentlich mühe ich mich umsonst, denn auf meinem Weg zu diesem Baum hat mein Blut eine deutliche Spur hinterlassen. Für einen Menschen wahrscheinlich nicht sofort ersichtlich, aber ich kann es riechen. Und wenn ich es kann, kann jeder Wolf es riechen. Meine Muskeln fangen an zu zittern, ohne dass ich es unterdrücken kann. Obwohl ich es wirklich versuche. Mir wird ganz kalt, das muss an der Kugel liegen. Oder ist es so kühl im Wald? Ich strenge mich weiter an, starre auf die Ecke, die ich erreichen möchte und ziehe mich Zentimeter für Zentimeter vorwärts.
Ein weiteres Knacken und ich halte die Luft an, balle die Fäuste und presse die Zähne aufeinander, damit ihr Klappern mich nicht verrät. Ich lausche in die Stille, versuche etwas anderes als den toten Körper neben mir und mein Blut zu riechen. Aber da ist nichts, was mir verrät, wer sich auf mich zu bewegt.
»Ich bin es«, flüstert Ice und tritt zwischen den Bäumen hervor. Mit großen Schritten kommt er zu mir, kniet sich neben mich hin und betrachtet die Schusswunde.
Erleichtert seufze ich auf und gebe mich der Berührung hin, während Ice sich über mein Bein gebeugt hält und meine Verletzung mustert. Er wirft einen Blick auf die Leiche und die klaffende Wunde in ihrem Hals und sieht mich dann verschämt, fast schon entschuldigend an. Ice mag zerfressen sein von all der Schuld, die er in seinem Leben auf sich geladen hat. Aber anders als er glaubt, steckt in ihm mehr als nur das Monster, für das er sich hält. Er ist fürsorglich, beschützend und bereit, sein Leben für andere zu geben. Ich hoffe, dass er irgendwann in den Spiegel sehen kann und sieht, was ich sehe: einen Mann, der bereit ist, sich für andere Menschen aufzuopfern.
»Du hattest keine andere Wahl«, erkläre ich. Ich hebe die Hand und wische etwas von dem Blut weg, das über seine Wange läuft. Die Verletzung ist nur oberflächlich und sieht aus, wie eine Schramme, die er sich vielleicht an einem Zweig zugefügt hat. »Ist er tot?«

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Breathe
RomanceNur noch eine letzte Schicht in der Bar, dann kann Raven die Kleinstadt Black Falls endlich hinter sich lassen und hoffentlich so der Dunkelheit entkommen, die sie schon ihr ganzes Leben lang quält. Doch sie hat nicht mit Ice gerechnet, der in die S...