Ice
Sie fühlt sich heiß in meinen Armen an. So vorsichtig es geht, lege ich Raven auf das Bett, gehe zurück nach unten und hole eine Schüssel aus der Küche. Im Badezimmer lasse ich die Schüssel voll Wasser laufen und werfe ein kleines Handtuch hinein. Für mehrere Sekunden starre ich auf das Frottee und beobachte, wie es sich langsam voll Wasser saugt und auf den Schüsselboden sinkt. Mit geschlossenen Augen versuche ich, meinen Wolf zurückzudrängen. Ich kann es nicht gebrauchen, dass er ausgerechnet jetzt die Oberhand gewinnt. Er will Raven schützen. Mehr als alles andere will er sie verteidigen und jede Gefahr von ihr fernhalten. Sogar mich. Aber der Wolf will sich nicht einfach so von mir in Ketten legen lassen. Es kratzt unter meiner Haut und verlangt, hervorgelassen zu werden. Der Wolf ist jetzt, wo ich ihn raus und in Ravens Nähe gelassen habe, noch beharrlicher. Er will sie für sich haben. Wieso ist er so fixiert auf Raven? Weder Sam noch Will schienen auf diese intensive Art für Raven zu empfinden.
Raven ist eine Wölfin. Ich kann es noch immer nicht glauben. Aber es passiert vor meinen Augen. Dabei hatte sich jeder Wolf, der die Kriege überlebt hat, längst damit abgefunden, dass es keine Frauen mehr geben wird. Viele sind im Kampf um die letzten Frauen gestorben, haben ihre Leben gegeben, um ihre Töchter und Gefährtinnen zu beschützen. Und jetzt ist da Raven. Ich verdränge die Vorstellung, was es für sie bedeuten wird, die einzige Frau zu sein, die noch in der Lage ist, Kinder zu bekommen. Bevor ich drüber nachdenke, muss sie erstmal die Wandlung überleben.
Ravens Angst in ihren Augen zu sehen, den Schmerz und die Verwirrung fast schon riechen zu können, hat mich wünschen lassen, ich hätte sie vor dem beschützen können, was jetzt auf sie zukommt. Aber das kann ich nicht. Und weil das hier meine Schuld ist, muss ich mein Bestes geben, um sie zu retten. Um ihr da durchzuhelfen. Ich muss einfach alles versuchen, um sie am Leben zu erhalten. Der Gedanke, sie zu verlieren, reißt ein Loch in meine Brust, das finsterer als meine Seele ist. All die Morde zuvor werden nichts gegen Ravens Tod sein, wenn ich ihn auch noch auf meine Seele laden muss. Ich bereue die Sekunde, in der ich sie gefunden und beschlossen habe, in Black Falls zu bleiben. Wäre ich sofort wieder gegangen ... Ja, was dann? Wäre es vielleicht schon zu spät gewesen und das hier trotzdem geschehen, und sie wäre ganz allein gewesen. Und dann hätte ich vielleicht Raven zur Mörderin gemacht. Nach einer Wandlung kann so viel geschehen. Sie ist so voller Mitgefühl für Sam gewesen. Ich bezweifle, dass Raven es schaffen würde, damit umzugehen, den Tod eines anderen verschuldet zu haben.
Nein, ich hätte gar nicht erst nach Black Falls gehen sollen. Aber wie hätte ich das hier wissen sollen? Wie hätte ich es ahnen können?
Ich krümme mich, als die ersten Knochen in meinem Brustkorb beginnen, sich zu verformen, stemme mich mit aller Kraft gegen die Wandlung und schaffe es, den Wolf zu unterwerfen. Ich schiebe ihn zurück in die dunkle Ecke, in die ich ihn immer sperre, und erkläre ihm, dass er Raven nicht haben kann. Dass ich ihn nur rausgelassen habe, um ihr zu zeigen, was sie sonst nie geglaubt hätte. Wie hätte sie mir auch jemals glauben sollen? Es musste sein. Und jetzt muss ich alles versuchen, damit sie überlebt, weil ich an dem schuld bin, was ihr passiert. Ich kann nicht zulassen, dass sie stirbt, nur weil ich die Wandlung ausgelöst habe, die sie vielleicht niemals hätte durchmachen müssen. Vielleicht war das das einzig Gute, das Sherwood je getan hat: seine Tochter vor einem Leben als Wölfin zu schützen, indem er sie von unserer Art ferngehalten und so die Wandlung aufgehalten hat.
Das hier ist allein meine Schuld. Niemand hätte jemals von ihr erfahren müssen. Sie hätte ein Leben in Freiheit haben können, ohne den Schmerz der Wandlung.
Ich gehe in das kleine Schlafzimmer mit der schmutzigen geblümten Tapete und stelle die Schüssel auf dem Nachttisch neben dem Bett ab. Nichts in diesem Haus gehört Sam oder mir. Es ist nur irgendein Haus, das wir besetzt haben, weil es verlassen wurde. Clanmitglieder haben keinen eigenen Besitz. Wir leben als Rudel zusammen und teilen alles untereinander auf. Wenn wir das Rudel verlassen, dann verlassen wir es nur mit dem, was wir auf dem Leib tragen. Und wenn wir als Wolf gehen, tragen wir nur unser Fell. Bis zu dem Augenblick, in dem ein Jäger uns findet und uns Moonshine verabreicht. Dann tragen wir nicht einmal mehr unser Fell.

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Breathe
RomanceNur noch eine letzte Schicht in der Bar, dann kann Raven die Kleinstadt Black Falls endlich hinter sich lassen und hoffentlich so der Dunkelheit entkommen, die sie schon ihr ganzes Leben lang quält. Doch sie hat nicht mit Ice gerechnet, der in die S...