Raven
Mitten in der Nacht wecken Krämpfe und Schüttelfrost mich. Ich drehe mich zur Seite und presse das Gesicht in mein Kissen, um die heftige Atmung zu dämpfen. Auf keinen Fall will ich Ice in seinem Bett wecken. Genau wie ich war auch er erschöpft gewesen. Und er hat in den letzten Tagen so viel Folter ertragen müssen. Auch wenn er stark erscheint, ich bin mir sicher, dass diese Tage genauso an seinen Kräften gezerrt haben wie an meinen. Ich halte die Luft an, als eine erneute Welle mich packt und Schweiß aus meinen Poren bricht. Ist das eine neue Wandlung, die sich ankündigt? Ich hatte gehofft, dass es sich nie wieder so schlimm anfühlen würde. Ich hatte auch gehofft, dass ich ab sofort mehr Kontrolle darüber haben würde, wann ich mich wandle und wie oft. Ich hatte wohl falsch gelegen. Ich krümme mich zusammen, als mein Magen zu krampfen beginnt und stöhne schmerzerfüllt auf.
Sobald die Welle abgeklungen ist, steige ich aus meinem Bett und flüchte in das kleine Badezimmer, um Ice nicht zu stören. Aber noch bevor ich die Tür schließen kann, drückt er sie von außen wieder auf und schiebt sich zu mir in das Bad. »Geh wieder schlafen«, fahre ich ihn ungehalten an. »Ich komme schon klar.« Er steht so nah vor mir, dass sein Geruch nach Mann und Schlaf mir in die Nase steigt und einen kleinen Tornado in meiner Magengrube verursacht. Nervös trete ich einen Schritt zurück. Ich habe genug mit den Schmerzen zu kämpfen, dann kann ich es nicht gebrauchen, auch noch gegen seine Anziehungskraft ankämpfen zu müssen. Die Wölfin protestiert über meinen Rückzug, sie hätte gerne noch mehr Nähe.
»Ich habe nicht geschlafen«, antwortet er und schiebt mich weiter in das Bad. Er nimmt eines der Handtücher, hält es unter den Wasserstrahl und mustert mich besorgt. »Dein Körper versucht das Silber loszuwerden und die Wölfin will die Heilung beschleunigen, indem sie versucht, dich zur Wandlung zu drängen. Sie haben es dir eingeflößt, damit du dich nicht in einen Wolf verwandeln kannst, während Sherwood ...« Ice bricht ab und beginnt nervös, mit dem feuchten Handtuch über meine Stirn und meinen Nacken zu wischen. »Entschuldige«, würgt er mit verkrampftem Gesicht hervor. Sein Blick konzentriert sich auf meine Stirn, geht irgendwo hinter mich und zuckt dann über die vergilbten Fliesen neben mir. Aber er sieht mir nicht ins Gesicht. Ice vermeidet es, mich anzusehen.
Ich lege meine Hand auf seinen Unterarm und nehme ihm das Handtuch ab, um mir allein den Schweiß abzuwischen. Seit wir gestern in das Hotelzimmer gekommen sind, hat sich eine unangenehme Distanz zwischen uns aufgebaut. Zuerst schien alles noch normal, aber nach einer Weile war es, als würde Sherwood wie eine dicke undurchdringliche Wand zwischen uns stehen. Diese Wand fühlt sich merkwürdig falsch an, nachdem wir fünf ganz Nächte zusammen auf einer Matratze geschlafen haben und ich mich ihm so nah wie nie zuvor gefühlt habe. Wir haben geredet, einander gehalten, einander Trost gespendet. Und jetzt ist diese Wand da, mit der ich nicht klarkomme.
Als wir uns gestern Abend in getrennte Betten gelegt haben, hat es sich kalt angefühlt. Fremd und irgendwie einsam. Ich wollte diese Distanz nicht. Ich habe mich nach seinem Trost gesehnt. Aber er hat sie wohl gewollt, und vielleicht auch gebraucht. Ich habe das Gefühl, als würde er in seinen Schuldgefühlen ertrinken.
Ich sehe zu ihm auf und suche seinen Blick. »Er hat es nicht getan, also lass uns nicht mehr darüber reden«, stelle ich knapp klar. Mehr will ich nicht dazu sagen. Es fällt mir einfach zu schwer, die Dinge zu benennen oder darüber zu reden. Ich möchte nicht einmal darüber nachdenken. Einfach nur abschließen. Will, dass alles wieder normal ist. Aber wenn er es wissen muss, aus welchem Grund auch immer, damit es ihm besser geht, dann soll er zumindest wissen, dass es keinen Grund gibt, sich schlecht zu fühlen.
»Ich weiß«, sagt er mit ernstem Blick. »Aber so einfach kann ich es nicht abhaken. Und egal, was du sagst, es kann nicht ungeschehen machen, dass ich Teil von dem war, was auf dieser Farm geschehen ist. Also bin ich auch Teil von dem, was dir geschehen ist. Und das kann ich mir nicht verzeihen.«
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Breathe
RomanceNur noch eine letzte Schicht in der Bar, dann kann Raven die Kleinstadt Black Falls endlich hinter sich lassen und hoffentlich so der Dunkelheit entkommen, die sie schon ihr ganzes Leben lang quält. Doch sie hat nicht mit Ice gerechnet, der in die S...