29. Seelentiere - Aiko

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Der Drache schnaubte und ich wertete das als Zustimmung.
„Du magst den Namen?"
Sie schaute mir direkt in die Augen und ich hätte schwören können, dass sie lächelte. Können Drachen lächeln?

Ich drehte mich zu Shuka.
„Was ist eigentlich dein ... Seelentier?"
„Ich zeige es dir."
Sie steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen lauten Pfiff aus. Sie konnte auf den Fingern pfeifen? Wie machte man sowas? Ich hatte das noch nie verstanden.

Nach einigen Minuten kam ein kleines Tier angerannt. Nein, angekoppelt. Es war ein Hase. Der Hase sprang auf die Schulter meiner Tante. Sein Fell war komplett schwarz, nur die Ohren - Löffel, wie auch immer - und der Schwanz waren weiß.

„Das ist Hajime", stellte Shuka den Hasen vor.
„Er war echt schnell", stellte ich fest.
„Das liegt daran, dass er ein magischer Hase ist. Er besitzt Supergeschwindigkeit."
„Das klingt nach einer praktischen Fähigkeit."

Ryuka stupste mich am Rücken an und ich drehte mich wieder zu ihr. Sie breitete ihre Flügel aus und schaute mich erwartungsvoll an.
„Ich glaube, sie will, dass du aufsteigst", sagte Shuka.
Der Drache schnaubte zustimmend.
„Okay. Das erste Mal auf dem Rücken eines Drachen", murmelte ich und kletterte auf Ryukas Rücken.
Kaum saß ich richtig, hob sie ab und flog zum Himmel hinauf.

Es war ein wunderbares Gefühl. Die warmen Schuppen, die kühle Luft, der Wind in meinen Haaren und die eleganten Bewegungen des Drachen.  Ich breitete die Arme aus und genoss das Gefühl des Fliegens.

„Fühlt sich wundervoll an, nicht wahr?", hörte ich plötzlich Shukas Stimme neben mir.
Ich drehte meinen Kopf nach rechts und entdeckte sie, wie sie neben mir her flog. Auf ihrem Rücken saß Hajime.
„Ja, es ist toll", erwiderte ich.
Sie lächelte.

„Ein Drache also?", fragte Meis Stimme zu meiner linken.
Ich drehte überrascht den Kopf zu ihr und blickte in ihr lächelndes Gesicht.
Mir fielen sofort ihre silbernen, schimmernden Flügel auf. Ob meine Flügel wohl auch so wunderschön aussahen wie die meiner Tanten?

„Das ist wirklich etwas besonderes", meinte sie.
Ein unzufriedenes Zischen lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Schlange um Meis Hals. Sie hatte silberne Schuppen und orange Augen, die mich für einen Moment ansahen und sich dann wieder auf Mei legten.
„Ist ja gut Megumi", lachte meine Tante. „Du bist auch sehr besonders."

Mei flog über meinen Kopf und fing an sich mit Shuka zu unterhalten. Diese schüttelte den Kopf und schaute kurz zu mir herüber. Ich konnte mir denken, worüber sie sprachen. Meine Flügel. Beziehungsweise meine nicht vorhandenen Flügel.

Diese Gedanken zogen meine Stimmung direkt runter.
Ryuka schien das zu merken, denn sie landete wieder auf der Wiese und stupste mich mit ihrem Flügel an. Ich lächelte, ließ mich von ihrem Rücken gleiten und streichelte ihren Kopf.
Meine Tanten landeten neben mir und warfen sich besorgte Blicke zu.

„Ich denke, es ist Zeit für das Mittagessen", sagte Shuka schließlich. Ich nickte.

Nach dem Essen ging Sayuri mit mir im Garten spazieren.
„Ich weiß, du hast immer noch Fragen", begann sie. „Ich würde dir diese gerne beantworten."

Ich überlegte. Es stimmte. Ich hatte noch viele Fragen. Doch wo sollte ich bloß beginnen?

„Ist euer Nachname Kurayami?", fragte ich nach einer Weile.
„Nein. Engel und Göttinnen haben keine Nachnamen."
Wie bitte? Meine Mutter hatte doch einen Nachnamen! Und zwar den Nachnamen, den ich an meinem neunten Geburtstag angenommen hatte.
„Aber meine Mutter ... hatte doch einen Nachnamen..."
„Sie hat sich diesen Namen gegeben. Du weißt ja bereits, dass sie eine Tarnung nutzte, um nicht aufzufallen. Genau aus diesem Grund gab sie sich auch einen Nachnamen. Diesen Nachnamen trägst jetzt du."
„Ja. Ich habe immer gedacht, ich halte sie dadurch in Ehren."
„Und das tust du."

Schweigen breitete sich aus, doch ich brach es schnell wieder.
„Wart ihr auf ihrer Beerdigung?"
Sayuri lächelte mich traurig an.
„Das waren wir. Doch auch mit Tarnungen. Erst nachdem alle fort waren, konnten wir uns, in unseren wahren Gestalten, von ihr verabschieden. Das war wohl der schlimmste Tag meines Lebens."
Das musste etwas heißen, wenn man bedachte, dass sie über 2.000 Jahre alt war.

„Was ist dein Seelentier?", wechselte ich schnell das Thema.
Sayuri blieb stehen und streckte lächelnd den Arm aus. Ich fragte mich, was das bringen sollte, denn sie hatte nicht, wie Shuka, gepfiffen oder so etwas ähnliches.
Wir warteten einige Minuten. Doch schließlich landete ein Vogel in den Farben von lodernden Flammen mit einem goldenen Schimmer auf den Federn und grünen Augen auf Sayuris Arm. Er schien regelrecht zu leuchten und ich konnte schwören, dass es in seiner Nähe heißer war. Ich erkannte diesen Vogel. Es war derselbe Vogel, der uns verfolgt hatte als Sayuri mich zum Palast der Engel geführt hatte.
„Ich habe mir das doch nicht eingebildet! Dieser Vogel hat uns verfolgt!"
„Das ist mein Phönix Sei. Und ja, er hat uns tatsächlich verfolgt."
„Warum?"
„Ich habe ihm gesagt, er solle vorerst auf Abstand bleiben. Du solltest erstmal alles verarbeiten, bevor du unsere Seelentiere kennen lernst."
Sei krächzte zustimmend und Sayuri kraulte ihn unter dem Schnabel.

Ich hörte ein Brüllen über mir und schaute nach oben. Ryuka landete neben mir und stupste mich mit der Schnauze an. Ich streichelte sie und sie grummelte zufrieden.
„Der Drache Ryuka? Ein wunderschönes Tier", sagte meine Tante.
„Da stimme ich dir voll und ganz zu."
Wir lächelten einander an und unsere Tiere schmiegten ihre Köpfe an uns.

„Soll ich dir Bilder von deiner Mutter und ihrem Seelentier zeigen?", fragte Sayuri plötzlich.
Ich strich nachdenklich über Ryukas Stirn.
„Ja", stimmte ich schließlich zu. „Hatte sie auch einen Drachen? Oder sagen alle, Ryuka sei etwas besonderes, weil sonst keine von euch einen hatte."
„Sie hatte einen Raben. Sein Name war Shin. Komm. Ich zeige dir ein paar Bilder."

Sie führte mich zurück zum Palast und in die Galerie.
Sie zeigte mir ein Bild von meiner Mutter und einem Raben mit pechschwarzen Federn und lilafarbenen Augen, der auf ihrer Schulter saß. Meine Mutter lachte und der Rabe flatterte mit den Flügeln.

„Shin, richtig? Lebt ... er noch?", fragte ich.
„Nein", seufzte Sayuri, „ein Seelentier kann ohne seinen Engel nicht weiterleben."

Die falsche WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt