„Wisst Ihr,"
Leblose Körper. Hunderte, nein, Tausende von ihnen. Ihre gebrochenen Glieder langten nach der Wasseroberfläche, streckten ihre krummen Finger Richtung Himmel aus. Ein letztes Mal die Liebe des Sonnengottes auf ihrer Haut spüren, den Himmel erklimmen. Wenn sie doch nur wüssten, dass das Totenreich nur selten eine Seele zurückgab.
Sein Gegenüber räusperte sich und Luciel sah von der Wasseroberfläche auf.
Bei Abryss!
„In meinen fünfzig Jahren auf See bin ich Aurin noch nie so nahegekommen."
Ein Seufzen fiel von Luciels Lippen, als er sich die Augen rieb. Seine Glieder wogen schwer, die Spuren der langen Reise. Die aufsprühende Gischt kitzelte seine Wangen wie ein warmer Kuss. Der Wind bauschte die himmelblauen Wellen auf, doch wehte er hier nicht rau wie in seiner Heimat, nein. Die sanfte Brise - eine Umarmung, die Begrüßung eines neuen Gasts.
„Warum nicht?", hörte er sich fragen.
Der alte Fährmann saß am anderen Ende des kleinen Boots, beide Ruder in seinem Schoß ruhend. Mit viel zu geübten Griffen stopfte er Tabak in eine Pfeife und hielt sie anschließend Luciel hin, erwartend. Den entrüsteten Blick belächelte der Mann bloß. Ein goldener Schneidezahn glänzte ihm entgegen.
„Es passiert nicht alle Tage, dass man ein Mitglied der zephyrischen Königsfamilie trifft. Erweist diesem gebrechlichen Seemann doch die Ehre."
Das Leben hatte auch diese Seele nicht verschont. Tiefe Furchen gruben sich in sein Gesicht, Abgründe in sonnengebrannter Haut. Der lange Bart ließ kein farbiges Haar mehr finden und den ein oder anderen Zahn schien der Fährmann ebenfalls verloren zu haben. Es war das Zeugnis eines Lebens gefüllt von harter Arbeit. Dennoch, so kraftvoll seine Schwünge mit dem Ruder waren, wie er den Wellen trotzte und den Wind eifrig aufsog, als war ihm neues Leben eingehaucht – einen gebrechlichen Eindruck machte er gewiss nicht.
Luciel lehnte sich vor und vergrub seinen Zeigefinger im Tabak. Augenblicklich begann Qualm von der Pfeife aufzusteigen, warf Schwaden gen Himmel, räucherte die Götter von ihren Wolken.
„Aurin mag keine Fremden", fuhr der Alte fort, "Seht doch selbst, Eure Hoheit, es gibt hier weder Hafen noch Boote. Warum sonst sollten wir zur Insel rudern?"
Es gibt kein wir, dachte Luciel. Er hatte das Ruder seit ihrer Abreise nicht einmal berührt. Er wäre nie auf die Idee gekommen.
Das große Segelschiff hatten sie vor rund einer halben Stunde hinter sich gelassen. Von der winzigen Nussschale von Boot aus gesehen, war der hohe Mast nicht mehr als eine Stecknadel am Horizont. Immer klarer zeichnete sich die Sandbank im Meer ab und als Luciel sich wieder zur Insel umdrehte, wunderte es ihn, wie hoch sich Aurin vor ihm aufgetürmt hatte.
„Das da oben!" Rauch drang aus den Nasenlöchern des Fährmanns, "Seht Ihr das Gebäude auf dem Berg?"
Tatsächlich! Kaum hatten sich seine Augen an das schier endlose Grün vor ihm gewöhnt, erkannte er nicht nur den Berg, der aus dem Wald hinausragte, sondern ebenfalls das Gebäude hoch oben auf seiner Spitze. Ein Tempel! Eine massive Treppe aus Stein führte direkt vom schneebedeckten Gipfel hinunter und fraß sich an der Steinwand entlang, bis sie im Schutz der Baumkronen verschwand. Es war ein Anblick, der Luciel wahrlich den Atem raubte. Er konnte sich nur mit Mühe wieder vom Wunder lösen. Dem Fährmann erging es ähnlich. Es war ein Meisterwerk der Natur, ein Geschenk der Sonne!
„Es stimmt also, was die Leute sagen", murmelte der Alte, "Aurin ist bewohnt von Ketzern!"
Das Boot fuhr auf eine Sandbank auf und raubte den Passagieren den Halt. Der Fährmann ließ die Ruder fallen und begann in Ruhe seine Pfeife zu Rauchen. Der Qualm zog aufs endlose Meeresblau hinaus, Luciels dunkle Augen unfreiwillig hinterher. Die Wolken hingen schwer über dem Horizont und trugen nur mit Mühe den Regen Richtung Festland. Wenn er die Augen ein Stückchen zukniff, dann konnte er ihnen folgen. Erst würden sie die Küste treffen, den Hafen und die Straßen dunkler färben, weiter im Westen die Felder und Dörfer bewässern, Flüsse, Bäche und Seen fluten, Brunnen füllen und schließlich nach einigen Stunden die Palaststadt von Zephyr erreichen. Der Garten vor seinem Fenster würde im Niederschlag ertrinken und schloss er für einen kurzen Moment die Augen, so konnte er sich zurückdenken in seine Ecke im Schloss, wie er mit Sonnenaufgang einen letzten Blick von Draußen hatte erhaschen können, bevor er diese Reise angetreten war.
Wenn er jetzt umkehrte, könnte er den Regen einholen, um diese letzte Erinnerung wiederzubeleben?
DU LIEST GERADE
Götterparabeln I: Himmelserklimmer
FantasyKönigsstürzer. Vatermörder. Himmelserklimmer. Luciel hinterfragt nicht. Er dient seinem Sonnengott gewissenhaft, auch wenn er nicht versteht, warum alle anderen Götter verboten sind. Er vertraut seiner Familie, reist ins Exil und heiratet die sch...